Verratenes Land
Fakt und Fiktion sind seit gut 40 Jahren ein bewährtes Mittel der politischen Bildung durchs Kino. GeoWis stellt in einer kleinen Reihe einige Filme zu diesem Genre und deren reale Hintergründe vor. Im ersten Teil unserer Serie geht es um Peru mit dem Film The Dancer Upstairs.
Von Liz Bremer und Uwe Goerlitz (2008-03-22)
"Wir erklären hiermit, daß seit der militärischen Besetzung der japanischen Botschaft alle notwendigen Maßnahmen getroffen wurden, um die physische und psychische Unversehrtheit der gefangenen Personen zu gewährleisten. Diese militärische Besetzung haben wir aus Protest an der Einmischung der japanischen Regierung in die inneren politischen Angelegenheiten unseres Landes durchgeführt. Die japanische Regierung hat zu jedem Zeitpunkt die Menschenrechtsverletzungen der Regierung Fujimori ebenso wie ihre Wirtschaftspolitik unterstützt, die für die Mehrheit der peruanischen Bevölkerung nur zu Hunger und Elend geführt hat."
Diese Erklärung stammt aus dem ersten Kommuniqué des Movimento Revolucionario de Túpac Amaru (MRTA) vom 17. Dezember 1996. Am selben Tag hatten 14 Kämpfer dieser Bewegung die japanische Botschaft in Perus Hauptstadt Lima besetzt und 483 Geiseln in ihre Gewalt gebracht, von denen sie kurz darauf über 200 - meist Frauen und Kinder - unversehrt freiließen.
Die Besetzung hatte mehr als vier Monate gedauert. Sie wurde am 22. April 1997 mit technischer Unterstützung der USA durch das peruanische Militär gewaltsam beendet.
Dreieinhalb Jahre später kehrte der inzwischen wiedergewählte Präsident Alberto Fujimoro von einer Asienreise nicht zurück nach Peru, sondern setzte sich nach Japan ab, wo er im Eilverfahren einen Monat nach seiner Amtsenthebung die japanische Staatsbürgerschaft erhielt.
Nachdem er im November 2005 inSantiago de Chile verhaftet und im Juni 2007 an die peruanischen Behörden ausgeliefert worden war, verurteilte man ihn im Dezember 2007 zu sechs Jahren Haft. Weitere Verfahren stehen noch aus.
In John Malkovichs Film The Dancer Upstairs (dt.: Der Obrist und die Tänzerin) aus dem Jahr 2001 geht es kaum um Fujimoro und auch nicht um die Rebellen der MRTA, sondern um das bis dahin bereits geschundene Peru und die andere, streng maoistische Untergrundbewegung Sendero Luminoso ('Leuchtender Pfad') und deren intellektuellen, Kant-festen Anführer Manuel Rubén Abimail Guzmán Reynoso, der im Film Ezequiel heißt und von Abel Folk gespielt wird.
Es sind die frühren 1990er Jahre. Peru steht unter der Knute von Fujimoro, dem Militär und anderen Sicherheitskräften. Seit mehr als 20 Jahren existiert der Sendero Luminoso, der seinen Ursprung an der Nationaluniversität von San Cristóbal de Huamanga in der Andenstadt Ayacucho hat, wo Studenten und Lehrende sich die marxistisch-maoistischen Ideale des 1930 verstorbenen Politikers, Journalisten, Schriftstellers und Essayisten José Carlos Mariátegui ('7 Essays zur Interpretation der peruanischen Wirklichkeit') zu eigen machten.
Der ehemalige Rechtsanwalt Rejas (gespielt von Javier Bardem) verrichtet seinen Dienst als Polizist an einem abgelegenen Zwei-Mann-Straßenkontrollpunkt an einer Hauptstraße in den peruanischen Anden, wo er - ohne es zu wissen - Ezequiel begegnet.
Als Rejas in die Stadt versetzt (es wird nicht eindeutig klar, ob es Lima oder Ayachucho ist) und mit der Terroristenfahndung beauftragt wird, stellt er schnell fest, daß der ganze Polizei- und Politikapparat korrupt ist.
Rejas' Chef Merino, der oberste Polizist der Stadt (gespielt vom brillianten Briten Oliver Cotton) gehört nicht zu den Korrupten. Er unterstützt Rejas.
In einem erstaunlich perfektem Dialog mit Merino bekennt er auf Nachfrage, weshalb er Anwalt habe werden wollen: "Eigentlich wollte ich gar nicht Anwalt werden (...). Ich wollte Kaffeefarmer werden. Wie mein Vater." Woraufhin Merino fragt: "Wieso wurden Sie es nicht? Was hat Sie abgehalten?", und Rejas antwortet: "Mir fehlte eine Kaffeefarm." Mimisch überzeugend hakt Merino nach: "Was wurde aus der Ihres Vaters?", und Rejas antwortet sachlich: "Das Militär hat sie beschlagnahmt."
Der Film wartet mit einer Fülle von eindringlichen Dialogen auf, genauso wie mit erschreckend realistischen Aktionen und Bildern, die Betrachter und Zuhörer abseits medialer Berichterstattung dieser Zeit ein Bild von den politischen Zuständen des damaligen Perus vermitteln.
Rejas will aufrichtig sein, sich ans Recht halten, kann aber seine Miete nicht zahlen, weil sein Gehalt nie pünktlich kommt. Seine Frau Sylvina (gespielt von der Portugiesin Alexandra Lencaste) versucht ihr Mittelschichtsdasein mit Literarischen Abenden aufrechtzuerhalten. An ihr - und ihren eleganten Freundinnen - wird besonders deutlich, wie sehr und schwer das Land am ökonomischen und politischen Abgrund steht.
Zum schönen Schein und verantwortungsvollen Sein gehört auch der Ballettunterricht der Tochter, zu deren Lehrerin Yolanda (grespielt von Laura Morante) sich Rejas zunehmend hingezogen fühlt. Er ahnt nicht daß die gealterte Ballerina, die ihm die Zuneigung erwidert, im politischen wie emotionalen Bann von Ezequiel steht, der über ihrer Ballettschule Unterschlupf gefunden hat und von dort aus seine Anhänger steuert.
Yolanda, die die Maoistin Matritza Garrido Lecca verkörpert - Abimail Guzmán Reynosos Geliebte im wirklichen Leben -, hat ihrerseits keine Kenntnis davon, daß Rejas Polizist ist und hinter Ezequiel her ist.
Bis es zu einem dramatischen Showdown kommt, in dem sie ihm ins Gesicht spuckt und sich zu Ezeqiel und dessen Zielen bekennt, während Rejas verblüfft feststellen muß, daß Überzeugungen emotionaler und bindungshafter sein können als Zuneigung.
Im Film gibt es keine Japaner. Stattdessen ist die chinesische Botschaft ein kurzer Schauplatz und die den USA zugeneigte Reformpolitik Deng Xiaopings das Substrat, auf das verächtlich eingedroschen wird. Doch ist dies nur kleines Geplänkel. Film eben.
The Dancer Upstairs bewegt sich in Genre und Stil des auf Gabriel Garcia Marques Romans basierenden, von Francesco Rosi in Szene gesetzten Films Cronica di una morte annunciata (dt.: Chronik eines angekündigten Todes; 1987). Regisseur Malkovich, bekannt für außergewöhnlich bedächtige Rollen (Being John Malkovich; Klimt; Empire of the Sun) hat mit diesem Film ein Meisterwerk vollbracht.
"Ein krasser Gegensatz zwischen Reichtum und Armut kennzeichnet die Einkommensverteilung in Peru", so das Lexikon Dritte Welt der Ausgabe vom Juni 1991 unter Herausgeber Dieter Nohlen, damals Professor für Politische Wissenschaft an der Uni Heidelberg.
"Während die reichsten 20% über 61% der Einkommen verfügen, entfallen auf die unteren 40% lediglich 7%", so die Autoren des Lexikons, das in seiner Berichtskraft unter den unterschiedlichen Fraktionen deutscher Universitäten je nach Falkultät als linkssozialistisch, linksreaktionär oder realistisch eingestuft wurde.
Rejas muß seine Vermieterin genauso vertrösten wie die Ballettlehrerin seiner Tochter. Es ist ihm sichtbar peinlich. Er, Rejas, ist Polizeileutnant ('teniente'), hat aber kaum Geld. Er hat nichts als einen Titel, seine Überzeugung und seinen jungen, loyalen Kollegen Sucre (gespielt von Juan Diego Botto).
Im Film wird im Vergleich zu anderen Produktionen erstaunlich wenig gegessen. "Das durchschnittliche Kalorienangebot deckt nur 85% des Bedarfs", schreiben die Autoren des Lexikon Dritte Welt auf Seite 546. Unterernährung sei insbesondere in den Andenregionen weit verbreitet. Auch die medizinische Versorgung lasse - subsumiert - angesichts der Konzentration in den Städten in den abseits gelegenen Regionen zu wünschen übrig.
Die - deutschen wie internationalen - wissenschaftlichen Autoren und deren Werke waren auf der Höhe der Zeit. Der britische Autor Nikolas Shakespeare, der sowohl den Roman The Dancer Upstairs (1999 bei Rowohlt auf Deutsch erschienen) als auch das Drehbuch zum Film verfaßte, mag sich eines dieser Wissenschaftswerke bedient haben.
Malkovich gehört schon lange der unorganisierten cinematographisch erfolgreichen Minderheit amerikanischer Regisseure an, die sich politisch über ihre Filme äußern.
In den frühen 1950er Jahren wäre einer wie er noch vor den Ausschuß für unamerikanische Umtriebe - besser bekannt als McCarthy-Tribunal - zitiert und wahrscheinlich massiv verunglimpft worden.
So massiv, daß er nie wieder Filme in den USA hätte drehen dürfen oder können. Wie es einst dem Briten Charles Chaplin widerfuhr, der während eines Aufenthalts in England erfuhr, nicht wieder in die USA zurückkehren zu dürfen. Chaplin ging nach Genf.
In Malkovichs Film kommt das geballte Grauen revolutionären Guerrilla- und Volkskampfes gegen ein klassisches lateinamerikanisches Unterdrückerregime zum Ausdruck. Dabei zeichnen Drehbuchautor und Regisseur nicht so sehr die Charaktere der Unterdrücker. Vielmehr richten sie ihr Augenmerk auf die Gegenwehr der Unterdrückten.
Diese erweist sich als so trickreich wie banal, setzt auf niedere Instinkte. So zeigt die Kamera einen von Sicherheitsleuten ungebenen hohen Militär in Outfit und Figur des ehemaligen Generals Pinochet (Chile), wie der aus dem Auto heraus aufreizenden Mädchen in knapp berockter Schuluniform zuwinkt und zuzwinkert. Sekunden später hat ihm eines der Mädchen einen Kopfschuß verpaßt (s. Titelfoto).
Der Zuschauer kann sich im Verlauf des Films darüber Gedanken machen, wer Einzel- und wer Massenmörder ist. Juristisch nicht verhandelbar aber bleibt Mord.
Indes, Malkovich inszeniert gerade auch in dieser Sequenz eine gewisse Zwiespältigkeit, zwingt den Zuschauer zwischen die Fronten und nötig ihm Parteinahme ab.
Diese wächst sich aus, als Rejas später eine der jugendlichen Guerrilleras blutüberströmt in einem Hinterzimmer in einem heruntergekommenen Haus eines Slums im Sterben findet. Plötzlich wird er beschossen, und auch das bereits sterbende Mädchen. Es stirbt im Kugelhagel ihrer Organisation.
Wäre man in Palästina oder anderen nah- und mittelöstlichen Staaten, in denen Jugendliche als Kämpfer für irgendeine gerechte Sache eingesetzt werden, hieße man das Mädchen eine Märtyrerin, die den heiligen Tod oder so etwas in der Art gestorben sei. In The Dancer Upstairs stirbt der Teenager erst langsam, dann ganz schnell. Nichts daran erscheint heilig, alles höchst politisch.
Unvermittelt sieht Rejas sich einer gegenüberliegenden Rigorosität ausgesetzt, die er nicht erwartet hatte. Nirgendwo im Film wird klarer, wie sehr Rejas ein dem Recht verpflichteter Polizist ist, unpolitisch bis zur Naivität, neutral bis zur Unkenntlichkeit.
Er ist kein Held. Er ist, was er ist. Eine Person in einem System, eine Person in einem Justizsystem, das auf Unterdrückung ausgerichtet ist. Ob er sich dem Recht verpflichtet sieht, oder ob er es beugte, spielt dabei keine Rolle.
Peru ist heute, im März 2008, ein sozialdemokratisch regiertes Land, dessen Regierung sich bei den Linksnationalen von Zeit zu Zeit Unterstützung für ihre Politik holt. Politische Reformen in diesem Sinne sind unterwegs. Die MRTA hält sich einstweilen zurück.
© Liz Bremer, Uwe Goerlitz
© (2008-03-22)
Preise und Nominierungen:
2002: Venice Film Festival (1. Preis für Beste Filmmusik: Alberto Iglesias); 2004: Political Film Society, USA (Nominierung für PSA Award, Kategorie 'Frieden'); 2004: Chlotrudis Awards, USA (Nomininierung für Bester Schauspieler: Javier Bardem)