Die Internationalistin
Mit 17 verließ sie als nahezu mittelloser Teenager mit ihrer Mutter ihre italienische Heimat und schiffte nach den USA ein; mit 45 starb sie an nie zweifelsfrei geklärter Ursache als Revolutionärin in Mexico City. Dazwischen hatte sie ein bewegtes Leben. Teil 1
Von Tom Geddis (2012-04-21)
Tina Modotti begann mit zwölf Jahren als Näherin in einer Seidenweberei im norditalienischen Udine zu arbeiten. Gerhard Hauptmanns Sozialdrama Die Weber war da bereits 14 Jahre alt. Nachdem ihr Vater, Guiseppe Modotti, der dem Sozialismus anhing, mit einer Tochter nach San Francisco ausgewandert war, um sich dort für sich und seine in Italien verbliebene Familie eine bessere Existenz aufzubauen, musste Tina die Restfamilie ernähren, bis ihr Vater sie 1913 nachholte, wie Margaret Hooks schreibt.¹
In San Francisco arbeitete sie zunächst als Näherin im Kaufhaus First Magnin, wurde auf Grund ihrer "romantisch anmutenden Schönheit" (Hooks) aus Haus-Model entdeckt und kam durch die Pan-Pacifik-Ausstellung in Berührung mit der örtlichen Kunstszene und mit dem kanadischen Maler und Dichter Roubaix de l'Abrie Richey, den sie 1915 heiratete. Durch ihn gelangte sie tiefer in die Szene und entdeckte für eine Weile ihr Talent zum Schauspiel.
Sie erhielt Auftritte in San Franciscos Italo-Amerikaner-Theaterszene, avancierte zum lokalen Star und ging mit 22 nach Hollywood, wo sie einige wenige Hauptrollen in Stummfilmen besetzte, etwa in The Tiger's Coat und I Can't Explain. Nachhaltig großer Erfolg war Modotti jedoch nicht vergönnt, da sie nicht dem "italienischen Vamp" (Hooks) entsprach und sich zudem lieber mit der künstlerischen Bohème herumtrieb, in der Freidenker, Anarchisten, Kriegsdienstverweigerer und Homosexuelle vom Aufbruch in moderne Zeiten schwärmten. Sie waren von "Kunst und freier Liebe, östlichem Mystizismus und der Mexikanischen Revolution fasziniert" (Hooks).
Modotti rauchte Pfeife, trug weibliche Formen verdeckende Overalls und Drillichs, und demonstrierte auf diese Weise, dass sie nicht dem Frauenbild der damaligen Zeit zu entsprechen gedachte. Später eiferte ihr die 13 Jahre jüngere Frida Kahlo in manchem nach, indem sie beispielsweise Zigarre rauchte.
Für Tina Modotti, die junge Migrantin, die prägende bittere Armut in Norditalien erlebt hatte, begann eine Phase der Bewusstseinsbildung. Zwar war sie mit Richey verheiratet, das aber hinderte sie nicht daran, mit einem der Top-Fotografen damaliger Zeit, dem verheirateten Edward Weston, der bereits Vater von vier Kindern war, zunächst als Model zusammenzuarbeiten und dann eine Liaison zu beginnnen. Westen bildete sie zudem zur Fotografin aus.
Während Modotti sich als Westons Motiv als ebenbürtig mit dessen Arbeit verstand, als Fotografenlehrling ein enormes Maß an Talent und Kreativität an den Tag legte und Weston ins Schwärmen versetzte, litt Richey darunter und ging 1922 nach Mexiko. Seine Frau besuchte ihn - zu einer Zeit, als er bereits unheilbar an Pocken erkrankt war. Zwei Tage nach ihrer Ankunft sei er verstorben, so Hooks.
Inzwischen war Modotti knapp 26. Sie blieb erst mal in Mexiko und organisierte eine Ausstellung mit Arbeiten ihres verstorbenen Mannes, ihres Liebhabers Weston und den mit ihr befreundeter US-amerikanischer Fotografen.
Als ihr Vater schwer erkrankte, reiste sie zurück nach San Francisco, und als er verstorben war, Mitte 1923 wieder nach Mexiko, wo sich Weston mittlerweile in der Hauptstadt niedergelassen hatte. Sie arbeiteten weiter zusammen, wobei sie sein Atelier managte und sich als Fotografin zu betätigen begann. Laut Hooks entstanden ihre ersten professionellen Fotografien mit einer Korona.
In Mexiko, längst in der post-revolutionären Ära, herrschten rauhe Zeiten, die von grassierender Armut, Arbeiter- und Bauernaufständen und der Einforderung von Landrechten geprägt waren.² Präsident Àlvaro Obregón, gelobt für seine Agrar- und Bildungsreformen, Zurückdrängung des Einflusses der Kirche und der Freizügigkeit gegenüber der Entwicklung des Gewerkschaftswesens, und sein sozialpolitischer Mitstreiter, José Vasconcelos, genossen hohes Ansehen und waren die Hoffnung für den Aufbruch in bessere Zeiten.
Tina Modotti geriet ins Zentrum der Bohéme Mexico Citys, lernte die Muralisten Diego Rivera und José Clemente Orozco kennen, die Anthropologin und Anarchistin Anita Brenner und weitere Freidenker und Radikale. In ihrem Haus veranstaltete sie Motto-Partys, ließ sich treiben und tauchte tiefer und tiefer in die Szene ein, bis sie ihre Kamera nahm, um die Missstände im Land abzulichten, auf die durch die Werke der Muralisten und durch Arbeiter- und Bauerndemonstrationen in der Hauptstadt hingewiesen wurde und mit der Idee des Kommunismus' in Berührung kam.
Ende 1924 trennte sie sich von Weston, arbeitete noch eine Weile mit ihm und für ihn, reiste mit ihm und Brenner vier Monate durch Zentral- und Südmexiko, wo ihr das ganze Ausmaß der ländlichen Armut bewusst wurde. Ihre Fotos erscheinen in der radikalsozialistischen Zeitung El Machete und in Mexican Folksways. Sie blieb dann noch in leidenschaftlichem Briefkontakt mit Weston, bis dieser sich in den USA eine neue Existenz aufbaute und wieder heiratete. Diego Rivera wird Modotti ein Jahr später zu seiner Exklusivfotografin für seine Murals auserwählen.
1927 tritt Modotti in die Kommunistische Partei Mexikos (PCM) ein und fotografiert - neben anderen Arbeiten - Parteiveranstaltungen. Dann, 1928 - Álvaro Obregón war zwei Monate zuvor im Restaurant La Bombilla in San Ángel, Mexico City, von José de León Toral, einem religiösen Eiferer der Liga Católica, ermordet worden -, trifft sie auf ihre große Liebe, den kubanischen Revolutionär Juan Antonio Mella, der in Mexiko im Exil lebt und einer der wesentlichen Autoren von El Machete ist.
Mella, dem die Staatssicherheit Kubas Killer auf den Hals geschickt hat und dem der mexikanische Geheimdienst genauso wie der amerikanische auf den Fersen ist, wird am 10. Januar 1929 in Modottis Beisein in der Calle Abraham González von Unbekannten erschossen³.
¹ Margaret Hooks: Tina Modotti. Könemann, Köln, 1999.
² Ricardo Torres Medina: Del Caudillismo al TLCismo. El misterio de la sucesión presidencial. Inquietudes, Ediciones y Publicidad, D. F., 1993.
³ Ebd.
© Tom Geddis
© GeoWis (2012-04-21)
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