Too much love drives a man insane
Die Jerry Lee Lewis-Story wurde bereits Anfang der 1980er Jahre vollendet und gegen Ende jener Dekade ins Deutsche übersetzt. Die Erstauflage war lange vergriffen. Erst 2007 kam es zu einer weiteren deutschen Veröffentlichung, so dass hier zwar kein neues, wohl aber ein neu verfügbares und auch aktualisiertes Buch besprochen wird.
Von Hansjörg Bucher (2009-11-19)
Der Autor: Nick Tosches ist ein Musikjournalist der besseren Sorte. Seinen Ritterschlag erhielt er von dem großen Greil Marcus, der für die amerikanische Ausgabe das Vorwort beisteuerte (das in der deutschen Fassung leider fehlt). Tosches schrieb bereits eine hoch gelobte Biographie über Dean Martin (naja ...). Er beherrscht die Kunstfertigkeit, aus Schnipseln über Musiker ein Mosaik zu entwerfen, das die Schlachtfelder der amerikanischen Gesellschaft nachzeichnet. Für einen Leser aus dem alten Europa ist dies gewiss eine exotische Erfahrung, wenn Tosches unvermittelt die Essgewohnheiten eines Bluesmusikers, den Kleidergeschmack eines Jazztrompeters oder die Körperhygiene einer Punksängerin zum literarischen Stoff erhebt und zu etwas Neuem, Größerem zusammenfügt.
Das Thema: Jerry Lee Lewis hat eine Biographie vorzuweisen, die reichlich Stoff hergibt. Kein Wunder also, dass sich Autoren und auch Regisseure dieser Lebensgeschichte bereits öfter angenommen haben. Die erste Biographie entstand 1982 in Kooperation mit einer seiner früheren Gattinnen (Myra, genau: die Dreizehnjährige). 1989 drehte Jim McBride den Spielfilm Great Balls of Fire über das Leben JLLs mit Dennis Quaid in der Hauptrolle. Und als 2005 mit Walk the Line die frühen Jahre des Johnny Cash verfilmt wurden, da ging der Killer in einer fulminanten Nebenrolle (gespielt von Waylon Payne) mit auf Tournee. In anderen Filmen tauchte er gar nicht auf, war aber über den Soundtrack allgegenwärtig. Unvergessen der Energie-Anknips-Effekt, als Richard Gere die Bee Gees-Kassette aus dem Porsche wirft und den Killer-Rock (es ist Highschool Confidential) einschiebt. Hellfire fügt diesem bisherigen Werk eine neue Dimension bei. Wie das?
Das Buch: Nick Tosches ist fasziniert von JLL. Er sieht in ihm ein Wesen von mysthischer Abkunft, das etwas Vergangenes, ja Untergegangenes verkörpert und das in dem Autor eine Sehnsucht auslöst. Denn für ihn ist der Rock & Roll der Kunst zum Opfer gefallen, das Bedrohliche ist verkommen zur stilisierten Pose. Nicht so bei JLL: Er ist der letzte wilde Spross einer ganzen Dynastie wilder Kerle. Diese Einschätzung führt letztlich dazu, dass Tosches hier nicht ein Sachbuch vorlegt, sondern ein - indes sehr gut recherchiertes - Konglomerat aus Roman, Heldenepos und Milieustudie.
Hellfire knüpft an - weniger ist nicht drin - beim Buch der Bücher. Es ist einerseits alttestamentarisch, weil die Akteure immer einen zornigen, strafenden Gott erwarten. Es enthält indes auch neutestamentarische Elemente, endet bei der Offenbarung des Johannes. Doch es fehlt ein gütiger Gott, der so viel Wärme verbreitet, dass in das Leben der Anhänger der Pfingstbewegung etwas Ruhe und Gelassenheit einkehren könnten. Andererseits ist in diesen Kreisen das Charisma der Normalfall und nicht die Ausnahme. Die Intensität des Rockers in seiner Bühnenpräsenz hat hier ihre Wurzeln. Genießen kann er diese Gabe nicht.
Seiner Maßlosigkeit, von allem nie genug zu bekommen, steht das Wissen um die göttliche Strafe zur Seite. Denn der Rock & Roll ist die Sache des Leibhaftigen, wer diese Musik spielt, ist der ewigen Verdammnis preisgegeben. So sitzt JLL gefangen in seinen Schuldgefühlen und leidet. Das hindert ihn aber keineswegs daran, selber anderen Leid zuzufügen. Er hinterlässt eine breite Spur der Zerstörung und der Verstörung. Seine beachtliche Strecke umfasst tote Gattinnen, entehrte Jungfrauen, geprellte Handwerker, betrogene Staatskassen, ausgeraubte Läden, demolierte Autos, blutige Nasen und einiges mehr.
Die Risiken und Nebenwirkungen: Die Lektüre von Hellfire ist fast uneingeschränkt empfehlenswert. Sie gewährt Einblick in eine Welt, wie sie fremder nicht sein könnte. Wer JLL nicht oder kaum kannte, lernt zu verstehen, dass dem Verlauf seines Lebens eine gewisse Zwangsläufigkeit inne wohnt, die sich aus dem Fundamentalismus seiner Umgebung herleitet. Wer das Verhalten von JLL nicht überhöht sieht, der nimmt einen Rocker wahr, der zwar altert, der dabei aber nicht reift und der dadurch aus der Zeit fällt. Auf mich als Leser wirkte dies verstörend, denn er, JLL, sollte ja schon auf dem musikalischen Sockel bleiben, auf den ich ihn vor fünfzig Jahren gehoben hatte. Die Rettung des Idols gelang mir aber: Ich legte sein Hamburger Star Club-Konzert auf, und alles war wie früher.
Der Ausblick: Sollte es einmal zu einer Neuauflage dieses Buches kommen - etwa wenn die hora incerta dann doch geschlagen hat, dann möchte ich die Anregung geben, dass das Lektorat des Verlages noch einmal aktiv wird. Denn der Übersetzer war zwar stilistisch wie semantisch sehr gut, die deutsche Fassung kann mit Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums mithalten. Eines hat indes meinen Lesegenuss geschmälert: Der Konjunktiv Präsens wird in diesem Text richtig mies behandelt, seine Anwendung womöglich einem Zufallsgenerator überantwortet. Dies aber nur am Rande. Rocker wollen keine Oberlehrer sein.
Die Widmung: Mein Freund Friedel Hartmann hörte im Frühjahr 1958 im Radio (AFN Francfort) Great Balls of Fire. Nach diesen zwei Minuten war für ihn nichts mehr so, wie es vorher gewesen war. Ihm, der nun nicht mehr unter den Stehenden ist, widme ich diese Zeilen.
© Hansjörg Bucher
© GeoWis (2009-11-19)
Nick Toshes: Hellfire. Die Jerry Lee Lewis Story. Übersetzt von Jürgen Behrens. Paperback, 272 S., ISBN 978-3-89320-119-8. Reihe Critica Diabolis, 154, Edition Tiamat. Berlin, 2008.