"Früchte des Wohlstands gerechter verteilen"
Der aktuelle Atlas der Globalisierung von Le Monde diplomatique überzeugt vor allem durch interessantes Kartenmaterial, das zuweilen seine textliche Interpretation überragt. Er hat manch wichtigen Vorgänger.
Von Uwe Goerlitz (2009-11-21)
Seit etwa 4300 Jahren existieren thematische Karten. Die ersten Kartographien wurden auf Tontafeln vorgenommen. Die ersten kolonialistischen Seefahrer zeichneten vor mehr als 500 Jahren ihr geographisches Bild der Welt. Erst spät, mit Alexander von Humboldt, rückten thematische Karten vermehrt in die Atlanten und damit in unser Bewusstsein. Besonders im frühen 20. Jahrundert stellten Kartographen die globale Verteilung von Ethnien, Religionen, Vegetation oder Bodenschätzen graphisch dar. Die unterschiedlichen Abbildungen - geographisch wie thematisch - der Welt gelangten in Zeiten, als es noch kein TV gab, wesentlich über Atlanten in die Hirne von Schülern.
Atlanten, die in Kontinentaleuropa produziert wurden - und werden -, vermittelten uns, dass die Americas linker Hand liegen (Westen) und Asien rechts (Osten). In Atlanten, die in Asiens Schulklassen eingesetzt wurden - und werden -, liegt Europa links (Westen), die Americas rechts (Osten). Und aus Sicht der Amerikaner liegt Asien links (Westen) und Europa rechts (Osten).
Kaum ein gedrucktes Medium hat ein derart großes Potential, unser - geographisches - Weltbild so zu prägen, wie eine Karte dies vermag. Und kaum ein Druckerzeugnis kann uns so schnell einen Eindruck über ein Thema vermitteln.
Die thematischen Karten, lange Zeit nur untergebracht in Atlanten, die ihren Schwerpunkt auf die Geographie legten, uns die globale Anordnung der Landmasse vermittelten, einen Eindruck übers Relief, stehende Gewässer, Abflüsse und Küstenlinie gaben, begannen ab den frühen 1970er Jahren aus dem Korsett des 'Weltatlas' auszutreten. Neue, uns alle angehende Themen waren aufgekommen, die sich vielfach in Karten darstellen ließen.
Es begann sich zu lohnen, rein thematische Atlanten zu produzieren. Prinzipiell lässt sich alles mittels Karte darstellen: die Verteilung von Waschmaschinen in Baden-Württemberg genauso wie die Anzahl von Kriegstoten in irgendeinem Krieg zu irgendeiner Zeit. Selbst die Nerz-Population und deren Verteilung etwa in Sibirien lässt sich kartographisch darstellen.
Karten und Atlanten begegnen uns als etwas Objektives. Solange es das geographisch Exakte des Globus betrifft, kann man es heutzutage aufgrund satellitengestützter Vermessung wohl als gegeben hinnehmen, dass das Manipulationspotential überschaubar ist. Anders aber sieht es bei thematischen Karten und Atlanten aus. Hier kommt es auf den Blickwinkel der Autoren an, die uns mit ihren Karten etwas vermitteln wollen, was nicht grundsätzlich objektiv sein muss.
Einer der maßgeblichen thematischen Atlanten mit Blick auf die Probleme in der Welt ist der von Ben Crow, Alan Thomas, Robin Jenkins und Judy Kimble erarbeitete Third World Atlas, der erstmals 1983 von der Open University Milton Keynes, Pennsylvania, herausgegeben wurde. Aussagekräftige Karten in unterschiedlichen Projektionen sind durch Texte begleitet, die über die reine Wiedergabe zu dem, was der Betrachter ohnehin sehen kann, hinausgehen.
Dieser Atlas erschien zu einer Zeit, nach der etwa die meisten ehemaligen europäischen Kolonien Afrikas in eigenständige Nationalstaaten überführt worden waren - aufgrund von Befreiungskämpfen meist blutig. Klar, dass dieser Atlas nicht von marktliberalen Ökonomen initiiert worden war.
Gut acht Jahre später erschien der Atlas The State of the Earth (dt.: Der Öko-Atlas), herausgegeben von der kanadischen Geographin Joni Seager.
Die unter Fachleuten zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten bekannten Welt-Problematiken sind in diesem Atlas, der wenig textlastig ist, in eindrucksvollen Karten, kleinen Tabellen und Diagrammen dargestellt.
Beide - Third World Atlas und The State of the Earth-Atlas - zählen aus Sicht der politischen Mitte zu linkslastigen Publikationen, wenngleich sie objektiv nichts anderes als kartographierte Tatsachen und Prognosen bringen. Im Unterton rufen beide nach einer Überprüfung der politischen Systeme der entwickelten Länder, wenn nicht gar zu einer Veränderung.
In diese Schuhgröße versucht auch die neuste Ausgabe des von Le Monde diplomatique herausgegebenen Atlas zur Globalisierung zu passen. Unterteilt in sechs Kapitel, jedes davon umfangreich in einer Vielzahl von nützlichen Beiträgen betextet und mit teils erstaunlich informativen Karten und anderen Grafiken unterlegt wie flankiert, setzt dieser Atlas neue Standards.
Natürlich ist auch er nicht von Ökonomen verfasst, immerhin aber schreibt Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Ökonomie, ein Vorwort, in dem es etwa heißt: "Es ist höchste Zeit, die Strukturen unseres globalen Wirtschafts- und Finanzsystems von Grund auf zu verändern, um es insgesamt stabiler zu machen und die Früchte des Wohlstands gerechter zu verteilen."
Diese Haltung ist nicht zwangsläufig links. Sie ist wissenschaftlich fundiert, und nur fundamentalistische Ideologen der Radikalmarktwitschaft nölten hier. Seit deren Versagen im Jahr 2008 sollten gerade sie kleine Brötchen backen und dankbar dafür sein, dass ihnen willfährige Finanzminister mit Steuergeldern aus der Patsche geholfen haben.
Als Unterrichtsmittel für Oberstufen und Studierende eignet sich dieser Atlas sicherlich, indes nicht zwangsläufig für den generellen Einsatz im Unterrichtsbetrieb an Schulen, da die Begleittexte eher journalistischen, anstatt rein sachlichen Charakter aufweisen.
Als Nachschlagewerk und zu hinterfragendes Medium aber sollte dieser Atlas in jeder Schul-, Universitäts- und öffentlichen Bibliothek vorhanden sein, stellt er uns doch einen Teil der aktuellen Weltprobleme anschaulich dar. Lediglich die historische Dimension, der historische Kontext kommt ein wenig zu kurz. Den Kartographen allerdings muss an dieser Stelle ein gehöriges Lob ausgesprochen werden.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2009-11-21)