Zu wenige Frauen
In China wird die Ende der 1970er eingeführte Ein-Kind-Politik thematisiert. Geht es nach den Demographen, dann soll sie deutlich überdacht werden
Von Hao Feng und Uwe Goerlitz (2009-11-28)
Dass in den meisten Staaten die männliche Bevölkerung die Mehrheit stellt, gilt unter Bevölkerungswissenschaftlern als unstreitig. Doch während bei den Neugeborenen die Überschüsse weltweit zwischen ein und sieben Prozent liegen, auf 100 neugeborene Mädchen demnach 101 bis 107 Jungen kommen, sind es in China überproportional mehr.
Auf 100 neugeborene Mädchen kämen fast 121 Jungen, wie Professor Yuan Xin vom Population and Development Institute der Nankai University in Tianjin dem Blatt China Daily sagte. Allein bei den zwischen 1980 und 2000 Geborenen betrage der männliche Überschuss bereits 33,31 Millionen. Nach nunmehr dreißig Jahren 'Ein Paar, ein Kind'-Politik sei es an der Zeit, eine Neuausrichtung vorzunehmen, stimmt ihm sein Kollege Zhai Zhenwu zu. Zhai ist Direktor des renommierten Institus für Bevölkerung und Soziologische Studien an der Renmin University in Beijing.
Bisher wurde Chinas Bevölkerungs- und Geburtenkontrollepolitik vor allem außerhalb des Reiches thematisiert und teils stark kritisiert. So hat etwa Ann Anagnost, Professorin für Anthropologie an der University of Washington in Seattle vor über zwanzig Jahren kritisiert, dass als Folge der Ein-Kind-Politik vermehrt weibliche Föten abgetrieben und weibliche Neugeborene getötet würden.¹
Später ging sie noch einen Schritt weiter, indem sie etwa die Frage stellte, wie Chinas Kommunistische Partei überhaupt dazu habe kommen können, von Überbevölkerung zu sprechen und ob die daraus abgeleitete Politik lediglich dazuführen habe führen sollen, nicht zu viele, möglicherweise mittellose Konsumenten ernähren und beschäftigen zu müssen? Anagnost kam zu dem Schluss, dass China mit seiner Ein-Kind-Politik auf - so seltsam es klingen mag - Qualität statt Quanität gesetzt habe.²
Ohne diese Politik hätte China heute eine Bevölkerung von fast 1,8 Milliarden Menschen. Tatsächlich sind es amtlichen Statistiken zufolge gegenwärtig 1,34 Milliarden. So ist denn auch einer der führenden Politikberater der chinesischen Regierung, Hu Angang, laut China Daily der Auffassung, dass man "das Ziel, zu schnelles Bevölkerungswachstum zu verhindern, erreicht" habe.
Soweit es die Zahlen angeht, stimmt dies. Andererseits hat der künstliche Eingriff in die natürliche und sozial bedingte Fortpflanzung zu inzwischen deutlichen Schiefen geführt, die nicht so leicht und schon gar nicht mittelfristig wieder ausbalanciert werden können. Längst ist durch Chinas Ein-Kind-Politik der Trend zu einer Überalterung der Bevölkerung eingetreten, ein Phänomen, das in allen Industriestaaten anzutreffen ist.
Während jedoch in den Industriestaaten die Überalterung andere Gründe hat - Kriege, Verhütung, Bildung, Wohlstand, Karriere - und die statistische Frauen-Männer-Balance nicht allzu sehr aus der Waage gerät, finden Millionen chinesische Männer in fortpfanzungsfähigem Alter schlicht keine Frau entsprechenden Alters mehr. Während zum Beispiel in der autonomen Provinz Tibet relative Ausgeglichenheit bestehe, sei der Männerüberschuss in den Provinzen, Jiangxi, Anhui und Shaanxi besonders ausgeprägt, so Yuan.
Das Problem, das zu sozialen Verwerfungen führen könnte, besteht hauptsächlich in den Städten, während in den ländlichen Regionen Chinas die Geburtenkontrolle und Ein-Kind-Politik etwas - euphemistisch betrachtet - liberaler gehandhabt wird. Dort wiederum kam und kommt es den Bauern und Dörflern auf Söhne als Nachwuchs an. Doch dort auch wurden - und werden noch - weibliche Föten zuhauf abgetrieben, womit die Bauern ihren Beitrag zur deographischen Inbalance liefern.
Verstärkt wird diese Unausgewogenheit noch dadurch, dass die Söhne nicht immer in die Fußstapfen ihrer Väter treten wollen und in die Städte ziehen, um reguläre Jobs anzunehmen oder sich als Wanderarbeiter zu verdingen. Indes, das Individuum erkennt nur selten die volkswirtschaftlichen Folgen, die sich aus seinem subjektiven Handeln ergeben.
Ginge es nach Chinas Bevölkerungswissenschaftlern, sollte eine Neuausrichtung der Bevölkerungspolitik im dem im Jahr 2011 beginnenden 12. Fünfjahresplan festgeschrieben werden. Zhai Zhenwu ist da zuversichtlich. Die Zentralregierung habe bereits Forschungsaufträge dazu vergeben und befasse sich mit Entwürfen zu einer neuen Bevölkerungspolitik.
¹ Ann Anagnost: Familiy Violence and Magical Violence: The Woman as Victim in China's One-Child Birth Policy. In: Women and Language. Fairfax, 1988.
² Ann Anagnost: A Surfeit of Bodies: Population and the Rationality of the State in Post-Mao China. In: Conceiving the New World Order. The Global Politics of Reproduction. Berkeley, 1995.
© Hao Feng; Uwe Goerlitz
© GeoWis (200911-28)