"Die ganze Wassersäule"
Zum fünften Mal jährt sich dieser Tage das große Erd- bzw. Seebeben vom 26. Dezember 2004 vor der indonesischen Insel Sumatra, das den stärksten je gemessenen und verheerendsten Tsunami ausgelöst hatte. Das Fachblatt Geographische Rundschau (GR) widmet sich vollständig dem Thema in seiner Dezemberausgabe.
Von Uwe Goerlitz (2009-12-06)
19 AutorInnen aus sechs deutschen Universitäten und drei Forschungszentren, darunter eines in Australien angesiedelt, befassen sich mit dem Küstenrisiko Tsunami, wie der Titel des auch für Laien gut verständlichen Fachblatts lautet. Ihr Ansatz ist interdisziplinär. Beteiligt sind ForscherInnen aus den Bereichen Geographie, Geo- und Küstenmorphologie, Marine Geologie, Geoarchäologie, Geochronologie, Quartär- und Hochgebirgsforschung, Bathymetrie, Marine Seismologie, Küstenprozesse und Risikomanagement, Megastädte, und weitere.
Begleitet von eindrucksvollen Abbildungen und Karten legen sie Texte vor, die einzeln wie auch in der Summe überzeugen und dem Leser abseits der allbekannten Fernsehbilder einserseits nahebringen, was am 26.12.2004 geschah, und andererseits, weshalb es geschah, was seitdem geschehen und wie weit der Stand der Tsunami-Forschung ist.
Das Heft beginnt mit einer Bestandsaufnahme von Helmut Brückner und Dominik Brill vom Geographischen Institut (GI) der Uni Marburg (Der Tsunami von 2004: fünf Jahre danach), in der etwa die offiziellen Opfer- und Vermisstenzahlen gelistet sind. Mit 640 km/h habe sich der Tsunami ausgebreitet. "Noch an den in 20.000 Kilometer Entfernung" liegenden Küsten Perus, Chiles oder Mexikos" habe er Amplituden von einem halben Meter gehabt, war also mit halbmeterhohen Wellen an die Küstenlinie geschwappt.
In ihrer Analyse gehen die Autoren auch auf die durch diesen Tsunami verursachten Deformationen vor allem mariner Ökosysteme ein und bilanzieren etwa für Thailand eine katastrophale Vernichtung und Beschädigung von Korallenriffen. Gleichwohl kritisieren sie die nach dem Tsunami völlig veränderten Landnutzungsrechte - beispielsweise für Sri Lanka -, wonach einst von der lokalen Bevölkerung genutzte Strandzonen und Küstenstreifen für Fischerei, Kleingewerbe und preiswerte Touristenunterkünfte nun als Pufferzonen ausgewiesen sind, in denen "die Errichtung von Neubauten und der Wiederaufbau (...) untersagt wurden."
Was hingegen der lokalen Bevölkerung versagt ist und sie damit ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubt, ist internationalen und nationalen Touristikunternehmen erlaubt. Sie dürfen bauen und vermieten, bis die nächste große Welle kommt.
Anja Scheffers (Southern Cross University, Lismore, Australien), Dieter Kelletat (Uni Duisburg-Essen) und Max Engel (Uni Marburg) geben neben der historischen Dimension einen Überblick zur Entwicklung der Tsunamiforschung nach der Katastrophe vom 26. Dezember 2004. Hierbei zielen sie weniger auf die hohe Opferzahl ab, sondern mehr auf die "tektonischen Voraussetzungen und seismischen Abläufe (...)", wobei sie das bereits erforschte submarine Geschehen kurz anreißen.
Wesentlich behandeln die Autoren indes das unterseeische Gefüge als Ausgangspunkte für Seebeben und daraus resultierenden Tsunamis und informieren darüber, welche geologischen Prämissen und tektonischen Geschehnisse das Seeben von vor fünf Jahren erst hatten verursachen bzw. begünstigen können. Wie es sich gehört, blenden sie die unter Fachleuten geführte "kontroverse Diskussion" dabei nicht aus.
Dass die Tsunamiforschung durch die tektonische Eruption vom Dezember 2004 mit einer kolossalen Magnitude von über neun - ähnlich jener vom Mai 2008 beim Sichuan-Erdbeben in China - und der daraus resultierenden menschliche Katastrophe einen Forschungsimpuls bekommen hat, der neben einem in den ersten zwölf Monaten erheblichen Spendenaufkommen auch zu vermehrten staatlichen Forschungsgeldern geführt hat, gilt als Konsens, der sich wie ein roter Faden durch das Themenheft zieht. Das Gute daran: die Autoren beschönigen nichts.
Unter dem Titel Geotechnik im Dienst der Menschheit erläutern Jörn Lauterjung, Ute Münch und Alexander Rudloff vom GeoForschungsZentrum Potsdam - wenn auch mit einigen sprachlichen Redundanzen - Funktionsweise und technische Ausstattung des Tsunami-Frühwarnsystems im Indischen Ozean. Zugleich geben sie uns einen Einblick zur differenzierten Betrachtung von Ozeanwellen.
"Charakteristisch für eine Tsunami-Welle ist (...), daß es sich nicht um eine Oberflächenwelle handelt, sondern daß die gesamte Wassersäule betroffen ist. Die Geschwindigkeit der Welle wird bestimmt durch die Wassertiefe und beträgt in 6.000 Meter tiefem Wasser 800 km/h." Je tiefer das Wasser, desto länger die Wellen, läßt sich dem Beitrag unter anderem entnehmen.
In tiefem Wasser habe die Welle eine sehr große Wellenlänge von "etwa 200 Kilometern und nur eine geringe Höhe, die wenige Zentimeter oder Dezimeter" betrage. In Südostasien schwappte demzufolge die Wucht unvorstellbarer Wassermassen - direkt und in Intervallen - an die Küsten, die keineswegs mit den durch Winde erzeugten Oberflächenwellen vergleichbar sind, die etwa als Brandungswellen und Sturmfluten für Angst und Schrecken bei Küstenbewohnern sorgen oder auf offener See Kaventsmänner verursachen können.
Dass Tsunamis nicht auf den Indik beschränkt sind, sondern auch im Mittelmeer vorkamen und künftig vorkommen können, beschreiben Andreas Vött und Simon Matthias May vom GI der Universität Köln in ihrem Beitrag Auf den Spuren von Tsunamis im östlichen Mittelmeer. Vor gut 1630 Jahren hat sich den Autoren zufolge dort ein verheerender Tsunami ereignet, der die Küsten Nordafrikas, Griechenlands und der Türkei heimsuchte. Die Autoren haben sich für ihren Beitrag - neben anderen - historischer Quellen und geoarchäologischer Befunde bedient.
Und dass es auch in jüngerer und jüngster Geschichte im Mittelmeer zu Tsunamis gekommen war, beispielsweise 1908 (Messina), 1956 (Ägäis), 1963 (Golf von Korinth) oder 1999 (Bucht von Izmir), mit Wellenhöhen (run-ups) bis 30 Metern, bringen uns die Autoren ebenfalls näher.
Den erschütternsten Beitrag in diesem Themenheft liefert Frauke Kraas (GI der Universität Köln). Sie vergleicht den Weihnachts-Tsunami 2004 mit dem Zyklon Nargis 2008 und deren Auswirkungen für Burma (Myanmar) und räumt hinsichtlich der Mainstream-Berichterstattung insbesondere zu Nargis mit einigen Mythen auf.
Schon der Tsunami hatte etwa die burmesischen Küstenregionen um Sittwe, Kapyet, Pyinsalu, Dawei, Myeik oder Kawthaung schwer verwüstet. Doch "die Auswirkungen" des Zyklons Nargis, der in der ersten Maiwoche des Jahres 2008 auf das Land traf, seien "ungleich schlimmer" gewesen. Windgeschwindigkeiten von "210 km/h (...), in der Spitze bis 260 km/h" pflügten alles weg, was im Ayeyarwady-Delta nicht fest genug verankert war.
Kraas weist auf unterschiedliche Todesopferzahlen hin, die zwischen 200.000 und 2,4 Millionen betragen können, je nach Quelle. Sie erläutert die missliche Datenlage, wonach die letzte Volkszählung in Burma 1983 stattgefunden habe und niemand genau wisse, wie viele Menschen sich in der Deltaregion aufgehalten hatten, als Nargis über sie hereinbrach.
Die Katastrophe weitete sich Kraas zufolge aus, weil "das landwirtschaftliche Kerngebiet des Ayeyarwady-Deltas sowie das Industrie- und Handelszentrum der früheren Hauptstadt Yangoon, und dies unmittelbar vor der Aussaat bzw. Einsetzen der Reispflanzen vor Monsunbeginn" von Nargis fulminant in Mitleidenschaft gezogen worden war.
Auch nach Abklingen des Zyklons hörte das Leiden nicht auf. "Über 80% der Rinder, fast 70% aller Schweine und die Hälfte der Geflügelbestände starben", so die Autorin. Einen Verlust von gut einem Fünftel des burmesischen Bruttoinlandprodukts (BIP) habe das Land durch Nargis zu verzeichnen gehabt. Die Autorin bekräftigt, der Wirbelsturm habe Burma "unvorbereitet" getroffen und stellt vor allem den Medien ein schlechtes Zeugnis aus, die die Katastrophe politisch ausgeschlachtet hätten.
"Vorwürfe, dass die Bevölkerung nicht informiert gewesen sei, wie sie vor allem in den internationalen Medien nach den katastrophalen Zerstörungen und Verlusten erhoben wurden, gehen an der komplexen Realität vorbei. Im Vorfeld waren schwere Wirbelsturmwarnungen an die Bevölkerung ausgegeben worden (...)".
Ohne die vorangegangen Themenhefte der GR in ihrer Aussagekraft und Qualität zu schmälern, muss gesagt werden, dass dieses Heft eines der wichtigsten dieser ausklingenden Dekade ist. Die wissenschaftliche Erkenntnisbandbreite zum Thema Tsunami ist zum jetzigen Stand geradezu traumhaft - aber auch ernüchternd, was diese Naturgewalt angeht. Wie wichtig der GR-Redaktion die Thematik ist, zeitigt auch die dem Heft beigefügte Literaturbeilage, die - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - die meistzitierten deutsch- und englischsprachigen Quellen listet und dabei auf Internetquellen verzichtet.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2009-12-06)
Geographische Rundschau: Küstenrisiko Tsunami. Heft 12/2009. ISBN 5109120. Westermann, Braunschweig, Dezember 2009.