Gipfel der Scheinheiligkeit
Satten, knausrigen und fordernden Europäern wird von den Schwellen- und Entwicklungsländern Arroganz und Behinderung der Bekämpfung der Armut vorgeworfen
Von Maik Mensing und Wang Wei (2009-12-12)
Als Europa in Trümmern lag, war es bemüht, die durch den Zweiten Weltkrieg entstandenen Zerstörungen zu beseitigen und sich um den Wiederaufbau zu kümmern. Gut dreißig Jahre später waren die Kriegschäden wesentlich beseitigt, Kühlschränke, Waschmaschinen, Fernseher und - je nach geographischer Lage - Klimaanlagen waren in den meisten privaten Haushalten Standard.
Um die Umwelt hatte sich während dieser drei Jahrzehnte kaum jemand gekümmert. Fern- und Zentralheizungen wurden aus Kohle-, Wasser- und Atomkraftwerken betrieben und das Wort 'Mülltrennung' existierte noch nicht. Chemie- und andere Industrieunternehmen leiteten ihre Abwässer in die Flüsse ein und in der Nordsee wurde Dünnsäure verklappt.
Aus den Schloten der Kohlekraftwerke wurden Schwaden von Kohlendioxid, Kohlenmonoxid und Schwefelverbindungen in die Atmospähre emittiert. Es stank zum Himmel, verursachte die Bronchialkrankheit 'Pseudo-Krupp' und sauren Regen, der von Lappland bis Sizilien niederging und für saure Böden und Waldsterben verantwortlich war - und ist.
Gestört hatte es die Bevölkerung - vor allem die in der Nähe von Industrie- und Gewerbegebieten wohnende - immer. Die Schadstoffverursacher argumentierten stets, dass Wohlstand seinen Preis habe und im Übrigen Arbeitsplätze auf dem Spiel stünden, hätte man zu strenge Umweltgesetze. Die Europäer - voran die euopäische Industrie und deren politische Vasallen - waren damit lange durchgekommen, so lange, bis grüne Parteien entstanden und erst in die Kommunal-, dann in alle weiteren Parlamente eingezogen und im Laufe der folgenden Jahrzehnte das private und politische Bewusstsein für die Umweltbelange schärften.
Doch erst die Aussicht auf Profit ließ die europäische Industrie umschwenken und in großem Stil in Umwelttechnologien investieren. Mit ihr hielt die Riege der Lobbyisten ihr Fähnlein in den neuen politisch-industriellen Wind, jene Spezies von Berufsparasiten also, deren einzige Fähigkeiten darin zu liegen scheinen, politischen Entscheidern mal rektal, mal generös entgegenzutreten.
Über knapp drei Jahrhunderte lang haben die Europäer sich nicht darum geschert, wie sie ihre Umwelt belasteten. Und nicht nur das: Sie haben neben ihren Technologien - meist in ausgemusterter Form - auch ihre Haltung zur Umwelt in alle Welt getragen und sich all jene Völker, die andere Produktionsansätze für ihr Auskommen verfolgt hatten, unterworfen.
Und sie haben stets daran verdient, und verdienen auch heute noch daran. Heute wie damals gelten die Europäer als entwickelt - ein Standpunkt, der sich stets am unterentwickelten Rest der Welt orientiert -, ihre Umwelttechnologien als state-of-the-art, und machen nun in Kopenhagen beim Weltklimagipfel auf dicke Hose.
Läppische sieben Milliarden wollen sie ab 2010 bis 2012 jährlich lockermachen, um etwa Schwellen- und Entwicklungsländer in deren Bemühungen zum Umwelt- und Klimaveränderungsschutz zu unterstützen. Ein schon jetzt historischer Witz. Eine solche Summe reichte nicht einmal für den Küstenschutz etwa Bangladeshs oder der pazifischen Inselwelt.
Wie es sich für die europäische Arroganz gehört, sollen die mit den spärlichen milden Gaben bedachten Länder gefälligst so schnell wie möglich ihren CO²-und sonstigen Schadgasausstoß reduzieren, wobei sie weniger die Pro-Kopf-Emission zur Grundlage ihrer Forderung machen, sondern den nationalen Schadstoffausstoß. Hier liegen China, Indien, Brasilien und die USA vorn. Sie sind die größten Umweltsünder, solange man es auf die CO²-Emissionen in absoluten Recheneinheiten bezieht. Rechnet man den CO²-Ausstoß pro Kopf um, liegen die USA und die Europäer einsam an der Spitze.
Zu Recht haben während des Klimagipfels in der dänischen Hauptstadt die Vertreter von Schwellen- und Entwicklungsländern aufgemuckt, was etwa in deutschen Leitmedien zu seltsamen Formulierungen der Schlagzeilen führte ("EU-Chefs stellen Klimasünder an den Pranger", Spiegel Online). Der Vertreter Sudans und Sprecher der G-77-Staaten, Lumumba Stanislaus Di-Aping, meinte, die 'Hilfen' reichten nicht mal, um "genug Särge" für die Opfer des Klimawandels kaufen zu können.
Zuvor hatte ein Vertreter Chinas im Hinblick auf die in Aussicht gestellten Hilfen, die mit zehn Milliarden Dollar angegeben worden waren (ca. 6,7 Mrd. €), in einen drastischen Vergleich zur Weltbevölkerung gestellt und aufgerundet auf zwei Dollar pro Kopf: Dafür bekomme man in Kopenhagen nicht mal eine Tasse Kaffee. Aber Hirsebrei, ein lebenserhaltendes Medikament oder AIDS-Prävention im südlichen Afrika, möchte man als Satiriker hinzufügen, wäre die Angelegenheit nicht so ernst. Für Umwelt- und Klimaschutz aber bleibt da nichts mehr übrig.
Erst komme das Fressen, dann die Moral, wusste schon Bertold Brecht zu berichten. Die Europäer haben von dieser Prämisse über Jahrhunderte Gebrauch gemacht und sind prächtig satt geworden. So satt, dass sie längst an den Dicken im Lande verdienen. Dass andere nun auch nach Brechts Aussage leben und wirtschaften, finden sie, die Europäer, nicht gut.
Denn es bedeutet: Sie müssten sich einschränken zu Gunsten der Entwicklung anderer, zu Gunsten der Entwicklung von Schwellen- und Entwicklungsländern. So betrachtet fühlen sich die Europäer nicht nur im Krieg, sie sind es auch und versuchen mittels ihrer Almosen das Schlimmste zu verhindern. Das Schlimmste nämlich wäre, den Schwellen- und Entwicklungsländern soviel Starthilfe zu geben, dass diese womöglich in die Lage versetzt würden, irgendwann auf europäisches Niveau zu gelangen.
Wenn sich diese arrogante Haltung mal nicht rächt. Der chinesische Vize-Außenminister He Yafei hat die Almosen nebst der damit einhergehenden Forderungen der Europäer jedenfalls zurückgewiesen und darauf bestanden, dass China ein Recht auf Entwicklung habe.
Sein Vorschlag, wonach "in den Abschluss-Dokumenten die Bedürfnisse und Bestrebungen von Entwicklungsländern nicht den Bedingungen einer Gruppe von Ländern unterliegen sollten", verursachte bei den Europäern elitäres Naserümpfen.
He Yafei ließ sich nicht beirren und teilte der versammelten europäischen Arroganz aus Monarchie und politischem Alltag mit, dass für China und Entwicklungsländer oberste Priorität sei, die Armut zu verringern. He sieht "für die nächsten Tage intensiven und schwierigen Verhandlungen" entgegen. Der Klimawandel sei eine "Sache des Überlebens."
Während die Europäer, die USA und selbst das vom Klimawandel ebenfalls längst betroffene Australien weit davon entfernt sind, Verzicht zu üben und ihre Industrieprodukte der Umwelt- und Klimaverträglichkeit unterzuordnen, sind die Inselstaaten im Pazifik auf der Suche nach rettendem Land. Bis die rund 80 Millionen Insulaner des Pazifiks sich zum Umzug bereitmachen müssen - spätestens bis 2050 -, sind sie bemüht, sich auf den Meeresspiegelanstieg und weitere Klimaphänomene einzustellen.
So werden auf den Fidschis bereits salzwasserresistente Nutzpflanzen getestet sowie Mangroven und Schilfgräser gepflanzt, um der Bodenerosion und der Versalzung von Süßwasserbrunnen Einhalt gebieten zu können, wie Andrew Hewitt von Oxfam Australia während des Pacific Island Forums im Sommer dieses Jahres mitteilte. Gleichzeitig seien sie damit zugange, Wohn- und öffentliche Gebäude von den flachen Küstenregionen in höher gelegene Gebiete zu verlegen.
Australien, der größte Pro-Kopf-Umweltverschmutzer und -CO²-Emittent in der südostpazifischen Region, müsse "jetzt handeln und mehr als die 150 Millionen Dollar bereitstellen", sagte Hewitt. Den Insulanern stünden neben dem Meeresspiegelanstieg auch erhebliche Probleme bei der Versorgung mit Süßwasser ins Haus.
Australiens Regierungschef Kevin Rudd weiß, dass dem Land in den nächsten Jahrzehnten ein Ansturm von Millionen Klimaflüchtlingen aus der pazifischen Inselwelt bevorsteht, weshalb er die Pacific Climate Change Alliance ins Leben rufen wollte. Das war seine Idee, bevor er mit der Arbeiterpartei die Wahlen gewann. Inzwischen hat ihn das australische Parlament gestutzt und Rudd kommt zahnlos nach Kopenhagen.
Da ist China schon einen Schritt weiter. Das Land steht in Beratungen mit den Insulanern und nähme sicherlich auch einige Millionen von ihnen auf. "Nationen sollten zusammenarbeiten, nicht gegeneinander", sagte He Yafeng gestern in Kopenhagen.
© Maik Mensing; Wang Wei
© GeoWis (2009-12-12)