Jung und alt auf Kakao mit LSD
Romane, welche die Bedürfnisse vieler Leser nach Flucht aus der Welt bedienen, sind hierzulande so selten geworden wie weiße Raben. Der hier besprochene Roman ist eine dieser Seltenheiten.
Von Wolfgang Körner (2010-04-15)
Der Autor, der unter Pseudonym veröffentlicht, weil er offensichtlich mit dem herkömmlichen Literaturbetrieb nichts zu tun haben will, schreibt keine Konfektionsware wie sie etwa die Harry Potters oder Vampires sind, oder deutsche Familiensagas, an denen sich Autoren wie beispielsweise Uwe Tellkamp abarbeiten. Dieser Autor erzählt die Geschichte einer Reise zweier Protagonisten, die kaum unterschiedlicher sein könnten.
Der eine, Harold, 49 Jahre alt und vergleichsweise schlichten Gemüts, verliert seinen Arbeitsplatz hinter der Fleischtheke eines Londoner Feinkostladens. Der andere, Melvin, ist vierzig Jahre jünger, aber hält sich für ein Genie. Immerhin: Er besitzt 1238 Bücher, die er von seinem Großvater geerbt und sämtlich so gründlich gelesen hat, dass er sich an jede Zeile erinnern kann. Darüber hinaus kennt er sämtliche Beethoven-Sonaten auswendig und war dreimal hintereinander Schachmeister seiner Schule. Ein Autist, darauf legt er großen Wert, ist er aber keineswegs. Er kann sich unter fremden Menschen bewegen, mag nur keinen näheren körperlichen Kontakt zu ihnen.
Als Melvins Mutter London aus geschäftlichen Gründen für eine Woche verlassen muss, bittet sie Harold, sich während dieser Zeit um ihren Sohn zu kümmern. Sie überreicht Harold 100 Pfund für etwaige Auslagen, verschwindet aus dem Roman, und die beiden Engländer hindert nichts mehr an den aberwitzigsten Unternehmungen. Sie beginnen vergleichsweise harmlos auf der Pferderennbahn, wo die 100 Pfund verspielt werden. Sie führen in eine zwielichtige Bar, aus der Harold und Melvin vor aggressiven Proleten flüchten müssen. Sie lassen die beiden in eine Kunstausstellung geraten, in der sich die auf den Gemälden abgebildeten Figuren ständig verändern, weil Melvin den Kakao für Harold und sich mit LSD entschieden verbessert hat.
Gewiss, solche pikaresken Reisen sind seit eh und je ein Thema der Literatur. Sie fangen mit der Reise des Odysseus an und hören mit den Abenteuern des Don Quichotte und seines Begleiters Sancho Pansa noch lange nicht auf. Entscheidend für die Qualität einer weiteren Variante dieses uralten Plots ist jeweils, was ein Autor daraus zu machen versteht, und hier entfaltet einzlkind ein Feuerwerk von Ideen, Einfällen und Anspielungen, das mir so bewundernswert erscheint wie die punktgenauen, intelligenten und oft nahezu absurden Dialoge seiner Helden, die auch vor der Chaostheorie und der Frage nach dem Sinn des Lebens keinesfalls zurückschrecken.
Das überzeugt nicht nur bei den Streifzügen durch ein London, in dem noch Paul Ankas Song Diana gehört wird, also wohl London in den 60er Jahren, sondern wird noch chaotischer, sobald sich die beiden Helden im alten Saab auf die Suche nach Melvins Vater begeben, von dem der Sohn nur den Namen kennt. Leider sind in den Telefonregistern mehrere Männer dieses Namens verzeichnet, und so ergeben sich weitere Stationen dieser mythischen Reise, und weitere Begegnungen mit archetypischen Figuren, bis die Reise letztlich in Irland endet.
Nichts erschiene mir verfehlter, als diesen Roman für ein Erstlingswerk zu halten. Dafür ist er stilistisch und sprachlich zu sicher geschrieben. Für jung halte ich seinen Autor auch nicht, dafür kennt er sich viel zu gut in der Filmgeschichte aus. Zum Beispiel verweist schon der Titel seines Romans auf den Kinofilm Harold und Maude von Hal Ashby aus dem Jahre 1971. Dessen Held Harold täuscht zwar - wie der Held des hier dargereichten Romans - von Zeit zu Zeit seinen Selbstmord vor, indem er sich aufhängt, doch darüber hinaus haben die beiden Harolds nichts miteinander zu tun. Doch dies ist nur eine der vielen Anspielungen und Verweise, die den Roman so außergewöhnlich erscheinen lassen.
In eine der gängigen literaturwissenschaftlichen Schubladen passt das höchst gelungene, an Einfallsreichtum kaum zu übertreffende literarische Kunstwerk nur schwerlich. Der Autor erzählt realistisch, wobei der Realismus vielfach in Hyper-Realismus und phantastischen Realismus hinübergleitet. Ja, so würde Boris Vian möglicherweise heute schreiben, wäre er nicht viel zu früh gestorben.
© Wolfgang Körner
© GeoWis (2010-04-15)
Harold, einzlkind. Paperback mit Klappumschlag, 224 Seiten, ISBN 978-3-89320-142-6; erschienen in der Reihe Critica Diabolis, Nr. 173. Edition Tiamat, Verlag Klaus Bittermann, Berlin, März 2010.