Oase der sozialen Kontraste
Nicht allein die Stammlokale der Deutschen sind Orte der Begegnung. Ebenso sind die über Einzelhandelsöffnungzeiten meist hinausreichenden Büdchen wichtige soziale Treffpunkte. Brigitte Kraemer hat einige von ihnen fotografiert.
Von Jonas Littfers (2010-05-15)
Für die meisten ist die Bude, die regional auch Kiosk, Trinkhalle oder Büdchen genannt wird, "ein nicht wegzudenkender Versorgungsstützpunkt, der elementare Grundnahrungsmittel wie Flaschenbier, Kartoffelchips und Klümpchen auch jenseits der üblichen Ladenöffnungszeiten bereit hält", wie der Bochumer Kabarettist und Autor Frank Goosen im Vorwort zu diesem Fotoband schreibt.
Dass die Bude noch viel mehr als das ist und ein exakt auf die Kundschaft zugeschnittenes Angebot bereithält, hat die in Hamm geborene Herner Fotografin Brigitte Kraemer mit der Kamera eingefangen. Auf knapp 140 Schwarzweißfotografien zeigt sie, was sich vor, hinter und in der Bude abspielt. Es ist ein Stück Heimat- und Regionalkunde, in deren Mittelpunkt die Menschen stehen, die die Bude nutzen.
Intensiver als etwa die Nachttanke oder der Frittenstand ist die Bude oft ein sozialer Ort des Verweilens und mitunter eine Oase der sozialen Kontraste, ein Ort, an dem man sich schnell - meist bei einem Heiß- oder Kaltgetränk - einen Überblick über die Schlagzeilen des Tages oder Neues aus der Nachbarschaft verschaffen kann. Letzteres ist meist das Interessantere.
Man erfährt an der Bude, wer gerade gestorben ist, viel zu jung oder absehrbar; man erfährt, dass Müllers Fritzchen schon wieder eine Fünf in Mathe nach Hause gebracht hat und Meiers Moni, gerade Fünfzehn, sich mit Achtzehnjährigen herumtreibt; der Filou von Schulze gerade seinen Abschluss gemacht und der vom Schmidt demnächst 200 Stunden im Altenheim ableisten muss, weil er schon wieder auf'm frisierten Moped erwischt wurde - ohne Führerschein.
An der Bude werden politische Standpunkte ausgetauscht, wird über Gott, die Banken und die Welt diskutiert. An der Bude findet statt, was Soziologen im medialen Raum schon lange vermissen: Kommunikation. An der Bude findet ein Austausch von Standpunkten statt, wie er originaler kaum sein könnte.
Für I-Dotze ist die Bude häufig der erste Kontakt mit dem Geschäftsleben. Indem sie ihr Taschengeld in Süßigkeiten umsetzen, lernen sie ein wenig den Wert von Geld kennen und wägen gut ab, wie viele unterschiedliche Weingummis, Lakritze und Lutschpastillen sie sich abzählen lassen können. Ein Gefühl für Zeit entwickeln sie während dieser Phase leider noch nicht.
Denn ob sich hinter ihnen Erwachsene anstellen, die nur eine Zeitung, ein Magazin, einen Büchter, Weizenjungen oder Zigaretten kaufen wollen, interessiert die Steppkes wenig. Auf höfliche Aufforderung aber lassen sie die Erwachsenen stets vor, ohne ihren Blick auf die Objekte ihrer Begierde aus dem Auge zu verlieren.
Drei Jahre lang hat Kraemer im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe Buden, Kioske und Trinkhallen im Ruhrgebiet fotografiert. Von Duisburg über Essen und Bochum bis Dortmund. Herausgkommen sind ausdrucksstarke Momentaufnahmen, die jede für sich gesehen eine Geschichte erzählen und für sich sprechen. Dem Betrachter lässt Kraemer Interpretationsspielraum, besonders deshalb, weil sie auf Bildunterzeilen verzichtet.
Um 18.000 Buden soll es im Ruhrgebiet noch geben, wie Dietmar Osses in diesem Buch schreibt. In seinem Essay Von der Seltersbude zum Telefonshop - Eine kleine Geschichte der Trinkhallen im Ruhrgebiet vermittelt er dem Leser - auch unter Bezugnahme auf Ulrich Hatzfelds 1985 erschienenem Buch Trinkhallen - von innen und außen betrachtet - nicht nur einen Überblick zur Entstehungsgeschichte der Bude, sondern auch einen ausgezeichneten Einblick in deren soziale Funktion.
Schichtenübergreifend versorgt sich hier ein jeder, dem es zu einem bestimmten Zeitpunkt an etwas mangelt, das er vergessen hat, während normaler Öffnungszeiten abseits der Bude einzukaufen oder was ihm gerade ausgegangen ist. Der Kasten Bier genauso wie die Flasche Veuve Cliquot, Mumm oder Söhnlein Brillant; die Dose Erbsensupope ebenso wie Zigaretten, Tabak, Blättchen, Mineralwasser, H-Milch oder - je nach Lage - Tampons.
Brigitte Kraemer zeigt uns Dreikäsehochs, die kaum über die Verkaufstresenkante ragen - weshalb die Süßies gut sichtbar im Fenster platziert sind -, nachbarschaftliches Stelldichein, Arbeiter beim Feierabendbier wie auch verlassenene und marode Buden, die schnell einen oder mehrere Gedanken an den Niedergang von Industriebetrieben aufkommen lassen.
Und sie zeigt das Warten. Aus der Perspektive der Budeninhaber, die die Zeit bis zum nächsten Kunden mit Allerlei überbrücken. Es wird ferngesehen, Fläschen gegeben, ein Nickerchen gemacht oder gelesen. Nicht selten wird auch nur - auf die Arme gestützt - aus der Luke nach draußen geschaut und aus dieser immer gleichen Perspektive wahrgenommen, was dem Bildausschnitt gemäß draußen geschieht.
Die Bude ist nicht nur Existenzgrundlage vieler BudeninhaberInnen, sondern nicht selten auch Lebensarbeitsplatz. In Kraemers Buch schreibt dazu Anne Overbeck in ihrem Aufsatz Rat und Tat und bunte Tüten - Die Trinkhalle von Emmy Olschewski in Castrop-Rauxel über eine Buden-Ikone, die bis 1995 in der von ihren Eltern 1921 gegründeten Bude arbeitete. 74 Jahre lang.
Ob Versorgungsstützpunkt, Mini-Krämerladen, Kummerkasten oder Weltverbesserungsort - die Bude ist aus dem deutschen und erst recht nicht aus dem Ruhrgebietsleben wegzudenken. Das Lob für dieses eindrucksvolle Bilderbuch gebührt daher allen: dem Herausgeber, den Autoren, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe und dem Verlag.
Vor allem aber Brigitte Kraemer, die bereits im Jahr 2000 mit dem Bildband So nah - so fern und später beispielsweise mit Aus dem Bauch des Tangos (2005) unter Beweis gestellt hat, wie nahe sie Menschen und deren jeweiliger Umgebung und persönlichen Situationen mit der Kamera zu kommen in der Lage ist, und wie sehr sie es versteht, Stimmungen einzufangen.
© Jonas Littfers
© GeoWis (2010-05-15)
Die Bude - Trinkhallen im Ruhrgebiet. Fotografien von Brigitte Kraemer. (Mit einem Vorwort von Frank Goosen und Essays von Dietmar Osses und Anne Overbeck). Hardcover, Querformat, 136 S., ISBN 978-3-8375-0061-5; 1. Auflage März 2009, Klartext Verlag, Essen.