Ende der Idyllen
Er gilt als einer der ernst zu nehmenden Gesellschafts- und Zivilisationskritiker der USA, und als einer, der mit Sachbüchern ebenso überzeugt wie mit Romanen: James Howard Kunstler. Soeben ist sein neustes Werk The Witch of Hebron erschienen.
Von Uwe Goerlitz (2010-09-18)
Es ist der zehnte Roman, den Kunstler auf den Markt gebracht hat. Vier Sachbücher, davon zuletzt The long Emergency, gehören ebenfalls in sein Œuvre. Der 1948 geborene Autor, von Haus aus Theaterwissenschaftler, wird nicht müde, die negativen Auswüchse menschlichen Planens und Handelns zu thematisieren, die von fehlgeleiteter Stadtplanung bis zum anthropologischen Einfluss aufs Klima reichen.
Was er bereits in The long Emergency niederschrieb, nämlich wie die nahende Endlichkeit des Öls und der bereits eingesetzte Klimawandel tiefe Einschnitte in die Psyche und Überlebensfähigkeit der Zivilisation nimmt, hat er nun auf The Witch of Hebron verlagert und literarisch ansprechend verarbeitet, was zu einem höchst spannenden Roman führt, den er - wie könnte es bei Kunstler anders sein? - im Milieu abseits der Metropolen ansiedelt.
Das Szenario irgendwann in der nahen Zukunft: Erdöl ist war gestern. Elektrizität und Internet sind nicht mehr vorhanden. Selbsterhaltungstrieb der Menschen und das Gesetz des Stärkeren herrschen vor. Man führt überall Krieg um schwindende Ressourcen, kämpft gegen Krankheiten und ums Überleben.
Das Staatswesen besteht nur noch rudimentär. Zwar gibt es noch einen US-Präsidenten, der aber hat sich möglicherweise in irgendeinem Bunker in Minneapolis verkrochen. Wie es in den Metropolen zugeht, kann man sich ausmalen. Auf dem Land, im US-amerikanischen Kleinstädtchen Union Grove, weiß man nicht viel von der Außenwelt.
Dass man in US-amerikanischen Kleinstädten auch zu Zeiten reichlich fließenden Erdöls, vorhandener Elektrizität und funktionierendem Internet - sprich: im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts und im gesamten 20. - nicht zwingend mehr von der Außenwelt gewusst hatte, ist ein an der Realität gut verifiziertes Klischee. Insofern nichts Neues, doch erstaunlich, dass dieses wirklichkeitsnahe Klischee offenbar zeitlos ist und daher auch für die nicht allzu weit entfernte Zukunft gilt.
In Union Grove versucht man, das Gemeindewesen aufrechtzuerhalten, rückt zusammen im vielleicht unaufhaltsam fortschreitend drohenden Schicksal, und ist bemüht, sich gegen die radikal-religiöse Bruderschaft der Wahrheit zu wehren, die von dem sinistren Bruder Jobe angeführt wird, der irgendwie nicht von dieser Welt zu sein scheint.
Der elfjährige Jasper Copeland läuft von zuhause fort, nachdem er etwas Schlimmes angestellt hat. Religionsfanatiker Jobe will ihn haschen. Er hat seine Gründe für diese Jagd. Währenddessen exponieren sich manche Bürger des Städtchens und versuchen sich Vorteile zu verschaffen. Das Gemeindewesen gerät ordentlich aus den Fugen. Doch es gibt auch Hoffnung.
Anders als in seinen Sachbüchern lässt Kunstler in diesem Roman der Zivilisation auch eine Tür offen. Das Prinzip Hoffnung, sozusagen. Indes, er greift ein uraltes Problem abseits der schon in der Bibel manifestierten künftigen Apokalypse auf: die für die Einen beseelende, für die Anderen verheerende Macht des Religiösen.
Kunstler, von Haus aus auch Jude, ist weit davon entfernt, seinen Glauben ins Spiel zu bringen. Eher wäre er - nach klerikaler Auffassung - Häretiker. Vor allem aber ist er ein zeitgenössischer Autor, der geradezu nihilistisch den Glauben an die Massenintelligenz im Hinblick auf Progression bearbeitet.
Die Masse, vor allem die ländliche, ist nicht so intelligent, mag man meinen. Das aber wäre ein Trugschluss. Sie, die ländliche Masse, lehnt Neuerungen mitunter zwar vorzugsweise ab, verlässt sich auf Althergebrachtes und flüchtet sich im Zweifel oder in größter Not ins Religiöse. Wie aber steht es mit der urbanen? Ist diese weniger anfällig für religiöse und auf die Apokalypse abhebende Rattenfänger?
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2010-09-18)
The long Emergency. Rezensiert von Wolfgang Körner >>