Dicker Brocken
Die Geschichte des Bergbaus im Ruhrgebiet ist komplex, ereignisreich und erschütternd. Hans-Christoph Seidel nähert sich ihr systematisch im vorliegenden Buch.
Von Uwe Goerlitz (2010-10-11)
Wenn, wie vorgesehen, im Jahr 2018 die letzte Zeche im Ruhrgebiet schließt, wird eine über Jahrhunderte Zigtausenden Indentität stiftende und das Revier lange Zeit prägende Branche zu Grabe getragen - eine Branche, die vielen Menschen ebenso Leid zugefügt hat.
Hans-Christoph Seidel beschäftigt sich in diesem als Habilitationsschrift vom Institut für soziale Bewegungen an der Ruhr-Uni Bochum angenommenen Konvolut von 640 Seiten mit beiden Phänomenen. Er taucht tief in die Sozialgeschichte des Ruhrbergbaus ein, wobei er knapp einleitend mit dem Ende des 19. Jahrhunderts beginnt, die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts abreißt und dann den zeitlichen Rahmen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs vernünftigerweise begrenzt.
So beschreibt Seidel etwa das sozialgesellschaftliche Gefüge im Revier, das geprägt gewesen sei von einem hohen Anteil an Industriearbeitern, einer "schmalen industriellen Oberschicht und von einer deutlichen Unterrepräsentanz bürgerlicher Mittelschichten (...)", wie er auch die Strukturen und Typen der Führungsebene der Unternehmen seziert.
Hierbei geht es weniger um die Herausstellung von Ruhrbaronen und deren Clans, wobei Seidel diesbezüglich auch ausreichend informiert. Doch der Autor richtet sein Augenmerk auf die unternehmerischen und personellen Netzwerke einerseits, und andererseits auf die hierarchischen Strukturen und Standesdünkel innerhalb der Belegschaften, an deren Spitze "eine etwa fünf Prozent starke, heterogene Gruppe" stand, "die als Meisterhauer, Aufsichtshauer, Schließmeister, Bandmeister, Bohrmeister, Förderaufseher, Rutschenmeister, Ortsälteste, Schachthauer und Wettermänner Vorarbeiterfunktionen oder besonders verantwortungsvolle Tätigkeiten wahrnahmen."
Regelrecht spannend wird es ab Kapitel III, der "Vorkriegszeit", in der die Beschäftigtenzahl im Ruhrbergbau ab 1933, dem Jahr von Hitlers Machtergreifung, bis 1939 kontinuierlich anstieg, nachdem sie von 1928 bis 1932 bis fast auf die Hälfte zurückgegangen war. Dennoch, so weist Siedler nach, war der Bergbau nicht mehr die vorherrschende Beschäftigungsbranche für etwa Volksschulabgänger. Die Branche hatte erhebliche Mühe, ihren Bedarf an Arbeitskräften zu decken, zumal sich die demographischen Dellen aus dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise bemerkbar machten.
Erhellend, neben umfangreichem Tabellenmaterial, das sich durchs Werk zieht, sind auch manche Begriffe, die viel über das damalige Denken aussagen. So der Terminus "Menschenbedarf", der von militärischen Planern während der Weimarer Republik geprägt wurde, als es um "die Menschenverteilung" ging, sprich: wie viele Arbeitskräfte "in künftigen kriegerischen Konflikten" die Wirtschaft benötigte und wie viele für den Kriegsdienst abgezogen werden könnten. Da hört sich der in diesem Zusammenhang längst in den aktuellen deutschen Sprachgebrauch diffundierte Begriff Human Ressources doch erheblich geschmeidiger an.
Akribisch dokumentiert der Autor Hintergründe und Begleiterscheinungen zu dieser Thematik, wozu auch die überregionale Anwerbung von Arbeitskräften für den Ruhrbergbau und die Versuche gehören, während der "Krisenjahre" nach Holland und Belgien ausgewanderte Bergarbeiter für den Ruhrbergbau zurückzugewinnen. Seidel erklärt dazu auch die formalen Zuständigkeiten und bringt sie in einen überschaubaren Zusammenhang der unterschiedlichen Interessen der im damaligen Deutschen Reich herrschenden Präferenzen.
Diese wurden zunächst auch mit der Wahl Hitlers zum Reichskanzler berücksichtigt. "Die Ausländerbeschäftigung wies beim Machtantritt der Nationalsozialisten einen gesamtwirtschaftlich marginalen Umfang auf. Da zudem die Instrumentarien bereit standen, um die Ausländerpolitik flexibel an wirtschaftlichen Notwendigkeiten und ideologischen Grundsätzen auszurichten, bestand (...) keine Notwendigkeit zu größeren Kursänderungen."
Der brisanteste Bereich von Seidels Buch beginnt mit Kapitel IV. Es ist gleichwohl der düsterste, geht es doch um den Einsatz von Zwangsarbeitern im Ruhrbergbau. Deren Anteil an der Gesamtbelegschaft erhöhte sich zunächst sukzessive, dann, mit zunehmender Kriegsdauer, exponentiell. Alle im Ruhrbergbau engagierten Unternehmen hatten Zwangsarbeiter in ihren Belegschaften, meist in den Reihen der Arbeiterschaft, weniger unter den Angestellten.
Was Seidel, inzwischen Professor an der Ruhr-Uni, mit diesem Werk geleistet hat, für das man sich Zeit und Muße nehmen muss, lässt sämtliche Guido Knopps zu dieser Thematik blass erscheinen. Wie es sich gehört und der Thematik angemessen ist, verzichtet der Autor auf jegliche Effekthascherei, setzt stattdessen auf die Kraft des Wortes innerhalb einer wissenschaftlichen Dokumentation und sorgt für eine sachliche Dramaturgie, die ihresgleichen sucht.
Folgt man Seidel, dann lässt sich nicht abstreiten, dass die Sozialgeschichte des Ruhrbergbaus ohne Zwangsarbeiter nicht erklärbar wäre. Ebenso wenig wäre sie erklärbar, klammerte man jene Hunderttausende aus, die freiwillig im Ruhrbergbau tätig waren, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und ihre Familien zu ernähren.
Sie ist nach intensiver Durchsicht dieser Lektüre auch verstehbar, obgleich sich Seidel ein Fazit erspart. Stattdessen widmet er sich gegen Ende des Textes auf 17 Seiten den Ergebnissen seiner Untersuchung. Hiernach dürfte niemand mehr, der künftig über den deutschen Kohlebergbau im Allgemeinen und den Ruhrbergbau im Speziellen berichten möchte an diesem Standardwerk vorbeikommen.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2010-10-11)
Hans-Christoph Seidel: Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg. Zechen - Bergarbeiter - Zwangsarbeiter. Hardcover, 640 S.; ISBN 978-3-8375-0017-2. Klartext, Essen, Mai 2010.