"Auf türkisch gekrischen"
Nach The Crazy Never Die hat Klaus Bittermann mit Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol - Kreuzberger Szenen nun einen persönlich gehaltenen Überblick zu seinem Kiez vorgelegt.
Von Uwe Goerlitz (2011-10-04)
Vor Einführung der fünfstelligen Postleitzahl (1993) existierten zwei Postleitbezirke für Berlin-Kreuzberg, die kurzerhand nach den Meldestellen 61 und 36 beziffert waren. Der berühmtere Teil war 36, international bekannt als SO 36. Hier spielten sich lange Jahre Haus- und Instandbesetzungsdramen ab, hatten die meisten Bewohner einen Migrationshintergrund, der von Ostanatolien über Baden-Württemberg bis Peru reichte. Multikulti in Berlin konzentrierte sich in 36, wohingegen in 61 die autochthone Arbeiterschaft und reichlich Kleinbürgertum ihr Refugium hatten.
Heute gibt es für Kreuzberg acht Postleitzahlen, doch liest man Bittermanns Buch, scheint sich ansonsten im Kern wenig geändert zu haben, soweit es vor allem das ehemalige Grenzgebiet des Kiezes 61/36 betrifft. Dort, im Graefekiez, ist er zuhause, dort kennt er - so der Eindruck nach Lesen der Lektüre - so ziemlich alle. Zwar nicht stets beim Namen, aber wenigstens vom Sehen und Verhalten.
Mal allgemein verständlich salopp, mal sprachlich geschliffen, und immer wieder tiefstes "Balliner"-Sprech als Dialoge und Zitate einpflegend, mäandert der Autor durch seinen Kiez, wobei er uns auf 191 Seiten in eine Welt mitnimmt, die schon auf Grund ihrer sozio-demographischen und städtebaulichen Mischung komplett unter Arten- und Denkmalschutz gestellt gehört.
Es ist eine Welt, in der das Gestern ebenso lebendig zu sein scheint wie das Heute. Bittermann, der unumstößlicher Anhänger von Hunter S. Thompson und Borussia Dortmund ist, beschreibt sie teils anekdotenhaft, teils in kleinen Geschichten und Sequenzen, und überwiegend so, dass Bilder auch im Kopf derjenigen Leser entstehen, die diesen Kiez noch nie besucht haben.
"Um was es geht, kann ich nicht verstehen, weil auf türkisch gekrischen wird", heißt es etwa in der Sequenz Zivilcourage. Es geht um eine 16-Jährige, die gerade von einem 18-Jährigen "verdroschen" wird. Unangebrachte direkte Konfliktlösung könnten Soziologen das nennen und einen Mediator entsenden. Für diese ihr Habt-euch-doch-bitte-wieder-lieb-Manna verstreuenden Fachleute hat der Autor nicht viel übrig, wie er zwei Seiten weiter darlegt.
Bittermann lässt uns teilhaben am Schein und Sein zwischen Admiralbrücke, Dieffenbachstraße und Maybachufer, und zeichet das, was in der Sozialwissenschaft Milieustudie genannt wird. Touristen aus aller Herren Länder werden genauso gewürdigt wie die Loser unserer Gesellschaft, Altrevoluzzer, Nachbarn und das Gastronomiegewerbe. Trotz mitunter deutlich kritischen Tönen ist des Autors Liebeserklärung an den Kiez unüberhörbar. Daran ändert auch nichts, dass er die Fußball-WM 2006 nach 2008 und die EM von 2008 nach 2010 legt.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2011-10-04)
Klaus Bittermann: Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol. Kreuzberger Szenen. Tradecover mit Klappumschlag, 191 Seiten, 16 Abbildungen. ISBN 978-3-89320-159-4. 1. Auflage, 2011. Edition Tiamat, Berlin.