Besser im Kopf
Das von Bundesverkehrsminister Ramsauer angestrebte Gesetzesvorhaben einer Helmpflicht für Radfahrer ist vertagt, aber nicht vom Tisch. Attackiert wird die Helmpflicht besonders von den Rad-Lobbyisten des ADFC. Dabei wäre neben einem Helm auch ein Führerschein für Radfahrer nötig.
Von Ralf Tenhagen (2011-10-28)
Fünf Milliarden Euro wurden im Jahr 2009 für vier Millionen Fahrräder ausgegeben, im Schnitt also 1250 Euro pro Rad. Rund 70 Millionen Fahrräder stehen in Deutschlands Haushalten zirka 45 Millionen PKW und etwa dreieinhalb Millionen motorisierten Zweirädern gegenüber. Während für die Fahrer von Krädern, Mopeds und Mofas in Deutschland seit 1976 Helmpflicht besteht, die bei Verstoß seit 1. August 1980 mit einem Bußgeld geahndet wird, setzt man bei Fahrradfahrern seit 35 Jahren auf Freiwilligkeit.
Der jüngste Vorstoß von Bundesverkehrsminister Ramsauer, eine Helmpflicht einzuführen, sollte sich die Helmtragequote "in den nächsten Jahren nicht auf weit über 50 Prozent" erhöhen, geriet daher mächtig unter Druck. Vor allen positionierte sich der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC), der strikt gegen eine gesetzlich fixierte Helmpflicht ist und Gegenargumente aus einer sechs Jahre alten Studie der australischen Wissenschaftlerin und Fahrradaktivistin Dorothy L. Robinson bezieht.
Die Studie¹, die im Wesentlichen die Positionen von Robinsons Untersuchungen aus den 1990er Jahren aufgreift, die sie 1996 unter dem Titel Cycle Helmet Laws - Facts, Figures And Consequences auf der International Bicycle Conference, Velo Australis, in Freemantle vortrug, hat zur Kernaussage, dass die - in einigen Provinzen Australiens gültige - Helmpflicht für Radfahrer nur "relativ geringe Effekte" auf den Rückgang tödlicher Verletzungen habe.
Doch reicht diese Erkenntnis aus, um von einer Helmpflicht abzusehen? Der Helm schützt bereits bei leichten Unfällen und Stürzen und ist neben ausreichender, funktionierender Rad-Beleuchtung, Reflektoren an der Bekleidung, schulischer Verkehrserziehung und privat erteilter Verkehrsschulung, Fahrradspuren auf Gehwegen und Straßen, Fahrradampeln und verkehrsberuhigten Zonen eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme.
Alle diese Faktoren, verbunden etwa mit gestiegener Sensibilisierung von PKW-Fahrern, haben dazu beigetragen, dass die Zahl tödlich verunglückter Radfahrer laut Bundesamt für Straßenwesen (BASt) von 1970 (1835) bis 2009 (462) um fast 300 Prozent zurückging, während die Zahl zugelassener Kraftfahrzeuge (KFZ) um knapp 200 Prozent stieg (1970: 16,783 Mio.; 2009: 49,603). Im Jahr 2005 erreichte der KFZ-Bestand dem BASt zufolge gar einen vorläufigen Höchststand von 54,520 Millionen. Dem schon dadurch erhöhten Verkehrsaufkommen ist eine nicht näher bezifferbare Anzahl von Speditions- und Reisefahrten im Rahmen des Schengen-Abkommens und der EU-Erweiterung hinzuzurechnen.
Argumente gegen eine Helmpflicht finden sich im Rückgang tödlich verletzter Fahrradfahrer nicht zwingend, zumal die Anzahl leicht und schwerverletzter seit Ende der 1990er Jahre jährlich bei über 70.000 liegt, wobei sie ihren niedrigsten Stand im Jahr 2002 hatte (70.163), sich seit 2005 aber der 80.000er-Grenze nähert (2007: 79.004). 35 Prozent der für 2007 registrierten im Straßenverkehr verletzten Radfahrer waren laut Statistischem Bundesamt Kinder unter 15 Jahren. 23 wurden tödlich verletzt.
Zwar ist das Risiko stetig gesunken, als radfahrendes Kind im Straßenverkehr tödlich verletzt zu werden - etwa im Zeitraum 1978 bis 2007 um das Dreinzehnfache -, doch die immer noch hohe Zahl an verletzten und umgekommenen Halb- bis Ein-PS-lern, 65 Prozent davon über 15 Jahre, und der Anstieg tödlich (plus 7,9%) und schwer verletzter (plus 43,5%) Radfahrer allein von Januar bis Mai 2011 spricht eher für die Einführung einer Helmpflicht. Im jährlichen Mittel der vergangenen Jahre starb die Hälfte der Getöteten laut Bundesverkehrsministerium an Kopfverletzungen.
Die Helmpflicht sei nicht vom Tisch, wie Ramsauers Sprecher Matthias Schmoll gegenüber GeoWis äußerte. Zuvor hatte der ADFC etwas verkürzt in einer Pressemitteilung unter Bezugnahme auf Ramsauers Sprecher Richard Schild behauptet, "dass der Minister nicht die Absicht habe, tatsächlich eine Helmpflicht einzuführen." Auf GeoWis-Nachfrage teilte Schmoll mit, dass das Adjektiv "aktuell" in der Meldung des ADFCs ausgelassen worden sei. Man baue im Verkehrsministerium noch auf Freiwilligkeit und wolle zunächst die weitere Entwicklung beobachten. Sollten die Ergebnisse nicht zufriedenstellend ausfallen, werde die Helmpflicht wieder thematisiert. Inzwischen wurde die vermeintliche Erfolgsmeldung von der ADFC-Seite entfernt.
Ob es auf die Gegner der Helmpflicht zurückzuführen ist, dass die Helmtragequote seit 2009 rückläufig ist, lässt sich kaum feststellen. Die Zahlen sind besorgniserregend. Betrug der Anteil der Helmträger 2009 schon bescheidene elf Prozent, lag er 2010 bei nur noch neun. Bei den Sechs- bis Zehnjährigen sank er von 56 auf 38 Prozent, bei den Elf- bis Sechzehnjährigen von 23 auf 15 Prozent. Der Gedanke der Freiwilligkeit führt ins Absurde, hält man sich vor Augen, dass zu den geschätzten 70 Millionen Rädern offenbar nur 6,1 Millionen Helme getragen werden.
Für die Weigerung, einen Helm zu tragen, gibt es eine Reihe von individuellen Motiven. Vielfach dürfte vor dem Hintergrund, Radfahrer seien "äußerst umwegeempfindlich", wie der Verband Unfallforschung der Versicherer (UDV) schreibt, Bequemlichkeit einer der Hauptgründe sein. Ausgeprägte Uneinsichtigkeit und ein diffuses Verständnis von Freiheit und Romantik in einer durchmotorisierten Welt könnten auch eine Rolle spielen. Denn das Fahrradfahren lernt man als Kind und durch die Kinderbrille scheinen es viele Erwachsene oft noch zu begreifen.
Doch es gilt nicht nur, Radfahrer vor Kraftfahrzeugführern zu schützen, sondern auch Fußgänger vor Radfahrern und letztere gegen sich selbst. Vor allem in urbanisierten und dicht bevölkerten Räumen. Dort benehmen sich viele häufig als Radler verklärten Radfahrer häufig wie rasende Krieger ohne Rücksicht auf Verluste. Laut Angaben der bayrischen Polizei habe es 2010 im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums München 2857 Verkehrsunfälle mit Beteiligung von Radfahrern gegeben, wobei in 61 Prozent der Fälle Radfahrer die Verursacher gewesen seien. Sieben kamen ums Leben; drei hätten Gutachten zufolge noch leben können, wenn sie einen Helm getragen hätten.
Wie in anderen Städten auch, haben die Münchner Schwerpukteinsätze zur Verkehrsüberwachug durchgeführt und mehr als 23.000 Beanstandungen gezählt, von denen die meisten - wären sie von KFZ-Führern begangen worden - nicht als Kavaliersdelikte einzustufen sind. In 27 Prozent der Fälle missachteten die Radfahrer das Ampelrotlicht, fast 14 Prozent fuhren ohne Licht und 13 Prozent benutzten ihr Handy während des Fahrens. Kaum besser sieht es in Berlin aus. Der örtliche ADFC beziffert die Zahl der Radfahrer an den 14.913 verletzten Verkehrsteilnehmern des Jahres 2010 mit 6.182. Ein Anteil von 41,5 Prozent.
Dabei liegt die Dunkelziffer bei Fahrradunfällen mit Verletzungen viel höher als bislang angenommen, folgt man einer vom Uni-Klinikum Münster vorgestellten Studie², in die laut Michael Raschke, Direktor der Unfallchirurgie des Klinikums, nur Unfälle aufgenommen worden seien, bei denen sich "der Radler" in die Unfallchirurgie begeben musste. Der Studie zufolge haben "dreimal mehr Radunfälle" stattgefunden als die Polizei registriert habe. Nicht immer werde sie beispielsweise bei Zusammenstößen zwischen Radfahrern und Fußgängern herbeigerufen; ebenso wenig fließen Art und Anzahl der Blessuren in die Statistiken ein, wenn der Hausarzt nach einem Unfall aufgesucht werde.
Offensichtlich sind viele Fahrradfahrer mit den herrschenden Verkehrsverhältnissen überfordert, obgleich der Großteil über einen PKW-Führerschein verfügt. So zählt der UDV zu den "typischen Verhaltensweisen von Radfahrern", dass sie den "rückwärtigen Verkehr" oft nur mit ihrem Gehör "beobachten" und häufig den "kürzesten Weg" bevorzugten, ganz gleich, ob die "straßenverkehrsrechtlichen Bestimmungen es zulassen oder nicht." Soll wohl heißen: Sie scheren sich nicht darum, was hinter ihnen passiert und machen nach vorne, was sie wollen. Manche haben die Ohrhörer ihres MP3-Players eingestöpselt, andere fahren bekifft, alkoholisiert oder unter sonstigen Drogen stehend, wieder andere scheinen zu träumen oder geben den Verkehrs-Rowdie.
Gut möglich, dass einige Sitzungen beim Psychologen, statt beim Italiener, mäßigenden Einfluss auf die angesprochenen Radfahrer hätten. Hierzu allerdings fehlt es - anders als bei KFZ-Führern - an gesetzlicher Grundlage. Auch ist bisher kein Wille beim Verkehrsminister erkennbar, sich mit einer Führerscheinpflicht - zum Beispiel ab 12 Jahren - für Radfahrer zu befassen. So überlässt man es privaten Anbietern und Initiativen, Fahradfahrschulungen durchzuführen. Die aber können in der Fläche gar nicht das leisten, was ein Gesetz bewirken könnte.
Dass es gewagt ist, die Gegner von Verpflichtungen gegen sich aufzubringen - schließlich sind Millionen Wählerstimmen in der Waagschale -, heißt nicht, dass vor ihnen gekuscht werden muss. Andere Länder sind da schon weiter, gerade weil sich der Gesetzgeber dort als weniger abwartend verhalten hat. So besteht seit 1. Juli 2005 in Schweden für unter 15-jährige und in Tschechien für unter 18-jährige Radfahrer Helmpflicht; in Spanien gilt sie außerhalb geschlossener Ortschaften; in Finnland und Neuseeland gilt sie landesweit, in den USA und Australien in einigen Bundesstaaten.
Zu den immer wieder vorgebrachten Argumenten für mehr Sicherheit der Radfahrer gehört der Ausbau von Radwegen und -spuren, für den sich etwa der ADFC stark macht. Dass diese dann nicht benutzt werden müssen, stellte das Bundesverwaltungsgericht am 18. November 2010 fest. "Im Regelfall" dürfen Radfahrer auf der Straße fahren. Ein Jahr zuvor kam der Bayerische Verwaltungsgerichtshof als Vorinstanz zu einem ähnlichen Urteil, nachdem der dortige ADFC-Vorsitzende gegen die Stadt Regensburg geklagt hatte. Da kann man sich als Bürgermeister, Baudezernent oder Verkehrsplaner sicherlich fragen, wozu noch Geld ausgeben für Radwege?
Auch die schon in der Robinson-Studie geäußerte Interpretation, die einen Rückgang der Fahrradnutzung und dadurch ein erhöhtes Unfallrisiko der verbliebenen Radnutzer impliziert, wird gerne genommen, um gegen eine Helmpflicht zu wettern. Dabei ist die Studie von Allgemeingültigkeit weit entfernt. So schreibt der User dunedin9012 am 19.10.2011 in seinem Leserbrief zu Robinsons Studie: "In Sydney fährt wirklich keine Sau Rad, auch, weil es dort einen funktionierenden public transport gibt."
Im gleichen Forum schreibt Colin F. Clark vom Cyclist's Touring Club Yorkshire (CTC), dass die Aufprallkraft auf den Kopf beim Tragen eines Helms entscheidend sinke. Für die Mehrheit der in Deutschland radelnden und rasenden Radfahrer muss offenbar vor einem Umdenken erst das eintreten, was für Polizei und Notärzte häufig Alltag ist: Gehirnmasse auf der Fahrbahn. Dabei wäre sie im Kopf viel nützlicher.
¹ Dorothy L. Robinson: Do enforced bicycle helmet laws improve public health? BMJ Australien, 2006.
² Langzeitstudie über 12 Monate unter Beteiligung weiterer Kliniken, der Polizei Münster, der StadtMünster und dem UDV in den Jahren 2009/2010.
© Ralf Tenhagen
© GeoWis (2011-10-28)