"Wir sind in der Dekadenz"
Mit Kingdom of Gonzo – Interviews mit Hunter S. Thompson liegt seit einigen Monaten die deutsche Übersetzung von Ancient Gonzo Wisdom (Hrsg. Anita Thompson, 2009) vor. 18 Interviews, die Hunter S. Thompson erstrangigen US Medien gewährte. Eins erhellender als das andere.
Von Wolfgang Körner (2012-04-23)
Ende 2005 war mir, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube bekommen. Ich saß mit Renate am Frühstückstisch, als mich die Nachricht zusammenzucken ließ. Hunter S. Thompson, der geniale schreibende Acid Head, hatte sich in Woody Creek bei Aspen, Colorado, erschossen. Die nächsten vierzehn Tage verbrachte ich damit, fast alles nochmals zu lesen, was er geschrieben hatte, sofern es zwischen zwei Buchdeckeln veröffentlicht worden war.
Thompson war ein Waffennarr, der mit der Whiskyflasche - oder unter dem Einfluss von anderen Drogen - in der einen, und einer .45er in der anderen Hand wild in der Gegend herumballerte. In den Jahren vor seinem Freitod absolvierte er, oft sturzbetrunken, eine Reihe von Auftritten, bei denen er sich - gegen herausragende Honorare - bewundern ließ, was ihm mit zunehmendem Alter sichtlich immer schwerer gefallen war.
Hunter Thompson hat viel geschrieben, vor allem für den Rolling Stone, dessen Herausgeber Jann Wenner ihm auf ambivalente Weise zu Füßen lag, und nach seinem Tod wurde viel über ihn geschrieben. Er war auch redselig, gab ungezählte Interviews, von denen die meisten nie auf Deutsch erschienen.
Er antwortet meist kurz und knapp, erzählt, wie es war, mit Hell's Angels unterwegs zu sein, jenen Bikern, die er für Angehörige der Unterschicht hielt, und die - noch heute - ihre Ohnmacht in Gewalt umzusetzen versuchen. Er berichtet über die Zeit der Präsidentschaft Carters und bezweifelt, dass der "die Bibel auf Spanisch" lese und dazu Bob Dylans Highway 61 höre.
Für Richard Nixon, den er 2003 in einer "Session im Haschischnebel" gegenüber Marty Beckmann im Vergleich mit George Bush II inzwischen nahezu für einen Liberalen hielt, hatte er sich 1974 im Interview mit dem Playboy noch gewünscht, sich "eines schönen Morgens" eine Zeitung mit der Schlagzeile "Richard Nixon hat letzte Nacht Selbstmord begangen" kaufen zu können.
Wir erfahren auch, das es ihm unmöglich gewesen sei, "mit Drogen im Kopf zu schreiben" - was wie HST-Früh-Satire klingt - und er nur "Wild Turkey und Tabak" als einzige Drogen "regelmäßig" nehme. Ansonsten verlässt er sich auf körpereigene. "Ich bin ein Adrenalin-Junkie."
Thompson gibt Auskunft über sein Spesenkonto beim Rolling Stone, das er arg strapazierte, "um mit Jann gleichzuziehen", verteidigt die Sixties, verachtet die 1980er, klassifiziert die 1990er als dekadente "neue Welt" und prophezeit, dass es "kein Jahr 2000 geben" werde. Und er gibt zu, dass Drogen - LSD, Kokain – Kreativpotential haben.
Er war Teil der Gegenkultur eines anderen, besseren Amerikas. Seine Vorstellung von Freiheit aber war spätestens nach 9-11, vermutlich aber schon mit Richard Nixons Watergate, dem Vietnamkrieg und den Morden an den Kennedys ad absurdum geführt worden.
Die Interviews sind hinsichtlich Thompsons Lebensweise, Arbeitsmethoden und Philosophie höchst aufschlussreich und seine Kommentare zur Entwicklung der USA erschreckend auf den Punkt gebracht. Der Abbau von Freiheit und "von allem, wofür wir (…) seit dem Zweiten Weltkrieg gekämpft haben", habe mit Reagan begonnen. Dieser Abbau ist inzwischen so offenkundig, dass der Anschlag auf das World Trade Center nicht mehr als eine zwangsläufige Folge der Strukturen dieses Imperiums sind. "Das amerikanische Jahrhundert", sagt er im Interview mit Matt Higgins (2003), "ging mit dem Jahr 2000 zu Ende."
Renate und ich sehen das anders, und der gute Hunter möglicherweise auch, weilte er noch unter uns. Denn die "Bastarde", wie er die Bush-Clique bezeichnete, müsse man ernstnehmen. Die seien "nicht so leicht zu knacken wie Nixon." Wenn er sähe, dass sich alles immer noch steigern lässt, würde er sich wohl noch mal erschießen.
© Wolfgang Körner
© GeoWis (2012-04-23)
Edition Tiamat (Hrsg.): Kingdom of Gonzo. Interviews mit Hunter S. Thompson . Aus dem Amerikanischen von Carl-Ludwig Reichert. Deutsche Erstveröffentlichung, Berlin, 2011.