Der bedeutendste Roman des 20. Jahrhunderts – endlich für das 21. überzeugend interpretiert
Wohl kein anderer Roman gilt als so kompliziert, ja nahezu unverständlich, wie James Joyces Ulysses. Declan Kiberd stellt das Meisterwerk vom Kopf auf die Füße und korrigiert Joyceaner, die diesen realistischen Roman zu einem Kreuzworträtsel erklären.
Von Klaus Berthold (2012-06-14)
Am 16. Juni feiert Dublin wie in jedem Jahr seinen bedeutendsten Autor - James Joyce. Hunderte von Dublinern kleiden sich dann wieder wie die Protagonisten seines ersten Romans, Ulysses.
Junge Männer wandeln wie Stephen Dedalus mit einem Spazierstock über die Eccles Street. Frauen bauschen ihre Röcke mit zahlreichen Petticoats auf. Von der Schuldenkrise arg gerupfte, vielfach arbeitslose, Büroangestellte setzen sich einen Bowler-Hut auf und geben oft ihre letzten Euro im Pub für maßlos überteuertes Guinness aus.
Auch wenn die meisten Iren das Buch gewiss nicht ganz gelesen haben, sie kennen seine Hautpersonen und wissen, dass James Joyce die gesamte Handlung seines Romans an einem 16. Juni stattfinden lässt. Jenem Tag, an dem der Autor 1904 seiner Lebensgefährtin Nora Bernacle erstmalig begegnete. Wie es auch sei, jener Tag wird noch immer, mehr als ein Jahrhundert später, feierlich als Bloomsday begangen. Das ändert nichts daran, dass der Roman noch immer als kaum verständlich gilt. Sehr zu Unrecht.
Gewiss, so zugänglich wie die meiste konventionelle Prosa unserer Tage ist dieses moderne Meisterwerk keinesfalls. Aber vieles, was nicht nur irische Joyce Spezialisten in das Werk hinein interpretierten, erscheint an den Haaren in den Text gezogen. Er wurde zur Pflichtlektüre von Anglistikstudenten und zum Objekt von Anglisten, die mehr ihre profunde Interpretationskunst demonstrieren wollten als zum Verständnis dieses durchgängig humanen viktorianischen Romans beitragen.
Damit räumt Declan Kiberd, Professor für Englisch-Irische Literatur an der Universität Dublin und einer der Direktoren des bedeutenden Abbey Theaters, gründlich auf. Seine Auseinandersetzung mit dem Ulysses schildert zuerst, wie Anglisten den durchgängig realistischen Roman zu einem elitären Geheimprojekt zu stilisieren verstanden, sozusagen nach dem Motto „Hoch lebe die Kunst, damit niemand rankommt.“ Gewollt hat Joyce das keinesfalls.
Mit zahlreichen Joyce-Zitaten belegt Kiberd, dass es dem Autor darum ging, am Beispiel des Romanhelden Leopold Bloom, der Stephen Dedalus einen Tag lang begleitet, aufzuzeigen, wie ein junger Mann zu einem humanen Erwachsenen und Künstler werden kann. Leopold Bloom, durch Erfahrung und Lebensalter vertraut mit den Widersprüchlichkeiten und Widerständen eines Menschenlebens, gibt sein Wissen an den Jüngeren weiter.
Viele der Ängste und Befürchtungen Blooms, so seine Eifersucht, sind sicherlich in der Prüderie der Oberschicht des viktorianischen Zeitalters begründet, in dem häufig sogar Tisch- und Stuhlbeine in Tuch gehüllt wurden, weil ein nacktes Bein als unanständig galt.
Gewiss, der Roman enthält eine Fülle von Verweisen. Auf Homers Odyssee, deren Struktur Joyce nachbildete. Auf die Bibel. Auf Shakespeares Hamlet, der Joyce zu seinen inneren Monologen anregte, die die Bewusstseinsströme des Menschen in die Literatur einfließen ließen.
Das macht den Ulysses zweifelsfrei noch interessanter. Doch das zum Erkennen solcher Anspielungen erforderliche literarische Vorwissen ist zum Verständnis dieses Meisterwerks keinesfalls notwendig. Es ist, wie jeder anspruchsvolle Text, auf mehreren Ebenen rezipierbar. Dennoch. Die einfühlsamen Erklärungen Kiberds machen die Lektüre des Ulysses zu einem noch größeren Vergnügen als zuvor.
Bei allem zeitlichen Abstand zwischen der Gesellschaft im viktorianischen - und damals noch erzkatholischen - Dublin und unserer schnelllebigen, angeblich so aufgeklärten Gesellschaft sind die Einsichten, die Leopold Bloom dem jungen Stephen Dedalus (und damit dem Leser) vermittelt, so nützlich und hilfreich, dass er vielfach wie ein liebevoller, auf Mitmenschlichkeit bedachter Guru erscheint.
© Klaus Berthold
© GeoWis (2012-06-14)
Declan Kiberd: Ulysses and Us, The Art of Everyday Living. ISBN 978-0571-24255-9, 399 S., Paperback, Faber and Faber, 2009.