Parlament des Grauens
Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause hat die Regierungskoalition eine bürgerfeindliche Gesetzesänderung zum Meldewesen durchgestochen, indem ein Häuflein Abgeordneter ihr zustimmte. Inzwischen ist die Empörung darüber angewachsen.
Martin Jasper (2012-07-09)
All jene, die die Volkskammer der ehemaligen DDR einst als Abnickergremium verspottet haben, müsste der deutsche Bundestag, in dem die gewählten Abgeordneten den Souverän, also das Volk, vertreten, mittlerweile ähnlich, vielleicht sogar als Kasperltheater oder als Parlament des Grauens vorkommen.
Dem Parlamentspumuckel, dargestellt von der heiseren stellvertretenden Bundestagspräsidentin Petra Pau (Die Linke), kamen bei der jüngst zur Abstimmung über die datenschutz- und verfassungsrechtlich zweifelhafte Neuregelung zum bundesdeutschen Meldegesetz jedenfalls keine Bedenken, das weitreichende, zunächst jedoch weitgehend unbeachtete Gesetz überhaupt besprechen zu lassen.
Stattdessen verlas die erlauchte Heiserkeit vor den höchstens zwei Dutzend anwesenden Parlamentariern - die Mehrheit der Abgeordneten bläute, um das EM-Halbfinale gegen Italien zu gucken - die Ziffern zum Gesetzesantrag und stellte die Annahme fest. Die Erweiterungen bzw. Änderungen im Meldegesetz könnten bei Zustimmung der Länderkammer (Bundesrat) in Kraft treten.
Es gehört zu den negativen Gepflogenheiten vieler Bundestagsabgeordneter, dass sie häufig durch Abwesenheit glänzen, sich also ihrer Verantwortung, vor allem aber ihres vom Souverän erteilten Auftrags entziehen, diesen im Parlament zu vertreten. Vielfach präsentieren sie auf Nachfrage Ausreden, die denen von Schulschwänzern in nichts nachstehen.
Man sei im Wahlkreis unterwegs gewesen, Oma, Mutter, Vater, Kind oder Nichte ist sterbenskrank gewesen, der Hund hatte Durchfall oder die Obsternte im eigenen Garten hätte auf Grund meteorologischer Vorhersagen dringend eingebracht werden müssen. Wie auch immer: Der Glaubwürdigkeitsfaktor noch so interessanter Entschuldigungen fürs Fernbleiben im Parlament tendiert gegen null.
Die Damen und Herren Parlamentsschwänzer haben offensichtlich Besseres zu tun als die Anliegen ihrer Wähler so wahrzunehmen. Wenn von über 600 im Bundestag vertretenen Abgeordneten lediglich fünf bis zehn Prozent zur Abstimmung eines weit in die informationelle Selbstbestimmung aller in Deutschland gemeldeten Bürger reichenden Gesetzes anwesend sind, muss gefragt werden, ob die Abgeordneten ihren Vertretungsauftrag für den Sourverän verstehen.
Wer es ganz böse meinte, dürfte durchaus fragen, ob da eine Melange aus Vollidioten, Lustlosen, auf finanzielle Versorgung Ausgerichteten und ehemaligen Förderschülern im Bundestag über Bürgerrechte und Gesetze abstimmt.
Die Zustimmung zur Neuregelung des Meldegesetzes, demzufolge die Einwohnermeldeämter künftig neben der bisherigen Praxis des Anschriftenverkaufs (4,00 - 7,00 €) an Werbetreibende nun auch weitere persönliche Daten verkaufen dürfen, ist einer der schwärzesten Momente des deutschen Nachkriegsparla-mentarismusses, der noch dadurch angereichert wird, dass Petra Pau sich scheute, das Gesetz gar nicht erst zur Abstimmung aufzurufen, weil die meisten Stühle im Parlament leer waren.
Nun überschlagen sich Regierung, Kabinettsmitglieder und zu den Koalitionsparteien gehörende Politiker im Zurückrudern, nachdem ihnen ein Shitstorm aus Empörung und Kritik vor den Bug donnert und ihnen das Gesetz um die Ohren haut. Maßgeblicher Ausgangspunkt für die Empörungswelle war ein Beitrag von Welt Online nebst Video, der mit "Bundestag verkauft Bürgerrechte in 57 Sekunden" betitelt war.
Plötzlich sieht auch die keinem Opportunismusfettnapf aus dem Weg gehende Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) "Diskussionssbedarf". SPD-Chef Sigmar Gabriel ging bereits in Stellung und sieht einen "gefährlichen Unsinn" in dem als "Fortentwicklung des Meldewesens" apostrophierten Gesetz. Auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Peter Schaar, wagte sich aus der Deckung. Wie so oft, recht spät.
Dabei ist schon seit Jahren gängige Praxis, dass auf den Meldeformularen (siehe Abbildungen (Auszüge) am Beispiel Stadt Dortmund) Opt-in- und Opt-out-Varianten parallel laufen. Man kann widersprechen oder einwilligen. Dieser bereits zweifelhaften, gerade noch überschaubaren eingeräumten Möglichkeit zur informationellen Selbstbestimmung sollte das nun in Verruf geratene Gesetz entgegenwirken.
Wenn es nicht nur proklamatorische Schaumschlägerei der Oppostionsparteien ist, dann dürfte das abstruse Gesetzesvorhaben der Regierungskoalitionäre im Bundesrat gekippt werden. Kann aber auch sein, das nur etwas Kosmetik betrieben wird.
© Martin Jasper
© GeoWis (2012-07-09)