Hinterm Horizont geht’s immer weiter
Mit dem 1972 eingeführten Inter-Rail-Pass wurde ein Instrument zur Völkerverständigung geschaffen, das bis heute unerreicht ist. Ein Rundblick. Teil 1.
Von Uwe Goerlitz (2012-09-28)
Bevor die damalige Deutsche Bundesbahn (DB) den Inter-Rail-Pass (IR-Pass) aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Internationalen Eisenbahnverbandes (UIC) im März 1972 auf den Markt brachte, verreisten junge Leute überwiegend mit ihren Eltern, nahmen an Freizeiten des CVJM oder bei Pfadfindern teil, machten sommers über Ferien in der Region, in der sie lebten, oder gingen das Wagnis des Trampens ein. Nur wenige besaßen ein eigenes Auto.
Mit dem IR-Pass eröffnete die DB im Verbund mit europäischen Bahngesellschaften, darunter sechs schweizerischen, Heerscharen von Jugendlichen unter 21 Jahren völlig neue Perspektiven und Möglichkeiten.
Erstmals konnten junge Leute einen Monat lang - ohne ihre Eltern oder an Vereine gebunden, auf jeden Fall ohne Aufsicht - für vergleichsweise kleines Geld (bis 1974 kostete der IR-Pass 250 DM) durch 20 europäische Länder reisen und Ziele ihrer Träume ansteuern. Mit namhaften Zügen, von denen die Trans-Europ-Expresse (TEE) die größte Strahlkraft besaßen. Allerdings waren die TEEs weitgehend 1.-Klasse-Züge, für die entsprechend Aufschlag gezahlt werden musste.
Wer mit dem IR-Pass reiste, begriff sich schnell als jemand, der sich für Kultur, Menschen, Landschaften, Kultstädte und -stätten des jeweiligen Landes interessierte. Paris, Rom, Barcelona, Madrid, die französische Provence, Venedig, Wien, Amsterdam, Florenz, Arcachon, Biarritz, Nizza und Lissabon waren die begehrten Ziele, die Mittelmeer- und Atlantikküsten insgesamt sowieso. Titisee, Steinhuder Meer, Scheveningen oder die Lüneburger Heide waren für die sich fernab autoritärer Kontrolle aufmachenden jungen Leute plötzlich out.
Beliebte Ziele waren - manche sind es noch - auch Granada und seine Alhambra, Torremolinos, die Plaka in Athen, das Nordkap, Stockholm und seine Schären, die Dünen von Pilat, Santiago de Compostela, Lissabon, von wo aus die Überquerung des Tejo per Boot nach Barreiro zu den Musts gehörte, und ab 1974 Norwegen, Tanger, Rabat, Marrakesch, Fes und Casablanca.
1976 wurde die Altersgrenze auf 23 Jahre angehoben, ein Jahr zuvor der Preis (290 DM). Europaweit wurden laut Informationen der DB bereits 1975 - frührere Daten liegen ihr zufolge nicht vor - 150.000 IR-Pässe verkauft, ein Fünftel davon in der Bundesrepublik Deutschland. 1979 lautete der Werbeslogan "InterRail unter 26". Das Ticket verteuerte sich nach den Erhöhungen in den beiden Vorjahren (1977: 339 DM; 1978: 350 DM) in jenem Jahr nicht. In den Genuss der Altersanhebung kamen indes nur Schüler und Studenten.
Nicht immer waren Interrailer in kleinen touristischen Orten willkommen. Den jungen Leuten haftete der Ruf von Sparsamkeit an. Betreiber von Lokalen waren an Einheimische, Pauschaltouristen und kaufkräftige Kulturbeflissene gewöhnt. An die IR-Rudel, die meist mit Rucksack nebst Zelt unterwegs waren, verschwendeten sie kaum Höflichkeit.
Im Laufe der Jahre aber setzte sich vielerorts die Erkenntnis durch, dass die jungen Leute auch Konsumenten sind, wenngleich sie lieber in Supermärkten und Bäckereien einkauften, statt allabendlich im Restaurant zu dinieren. Und wenn sie doch in Lokalen speisten, dann meist in jenen, die vorwiegend von der örtlichen Jugend frequentiert wurden, mitunter abseits der Touristenmeilen lagen oder in alternativen Reiseführern wie Lonely Planet (für Europa ab 1977) empfohlen wurden.
Auch Hotels wurden mangels ausreichender Budgets und ideologischer Gründe gemieden. Hotels waren etwas für Spießer. Wer nicht auf dem Kampingplatz zeltete oder ein Bett in der Jugendherberge hatte, rollte seinen Schlafsack am Strand, im Stadtpark, auf fremdem Grundstück - etwa in Schweden, wo das Jedermansrecht gilt - oder auf den Grünanlagen eines Friedhofs aus. Letzteres kam möglicherweise nicht so häufig vor.
Mit dem Zug durch Europa zu reisen, verhieß Abenteuer. Diese galt es zu erleben und zu überstehen. Manche wurden bereits zu Beginn ihrer Reise bestohlen, alleinreisende junge Frauen gerieten in Bedrängnis oder erfuhren Schlimmeres. Meist war ein gehörig Maß an Unbekümmertheit und Naivität der Reisenden mit im Spiel.
Negative Erlebnisse machten unter Interrailern schnell die Runde, indem sie sich untereinander austauschten und vor No-Go-Areas warnten. Auch vor Erfahrungen mit der Natur. Erfahrungen mit der lebensgefährlichen Meeresströmung vor Biarritz wurden ebenso weitererzählt wie die Tricks von jugendlichen Taschendieben in den Pariser Großbahnhöfen oder der Strandpolizei in den mondänen Orten der französischen Riviera. Auf der anderen Seite wurden sich gegenseitig Orte empfohlen, die man unbedingt aufsuchen solle, weil es dort noch unentdeckte Attraktionen und keine Vorbehalte gegen Backpacker gebe.
Bekanntlich erweitern Reisen und Abenteuer die geistigen Horizonte der Reisenden. Insofern darf man getrost davon sprechen, dass die Erfindung des IR-Passes die gelungenste Horizonterweiterungsmaßnahme vor Beginn des Internet-Zeitalters einleitete. Vielleicht auch die - ungeplant - größte Weiterbildungsmaßnahme, die je von einem Unternehmen initiiert worden ist.
Anders als heutzutage, wo junge Leute Europa und die Welt per Smartphone und Internet erkunden können, ohne auch nur einen Schritt vor die Tür setzen zu müssen, und wo ihnen eine Reise mit dem Zug nach Paris, Rom oder Mailand mitunter als zu beschwerlich, gar zu profan erscheint - obwohl Hochgeschwindigkeitszüge Standard sind und kaum mehr als zehn Euro Zuschlag verlangt werden -, weil der Flieger preiswerter ist, um von A nach B zu gelangen, waren die ersten drei Dekaden der IR-Reisenden regelrechte Eintritte in neue Welten.
Seinerzeit galt es für die meisten Interrailer, sich einen international gültigen Jugendherbergsausweis zu besorgen, gedruckte Karten zu studieren und das Auslandkursbuch abzuarbeiten, das die Reisebibel der Interrailer war. Neben der kompletten Zeichenerklärung und klangvollen Zug-Namen konnten sich Interrailer an Entfernungs- und Preistabellen festlesen, das europäische Bahnhofsverzeichnis auswendig lernen oder die Wechselkurse der europäischen Währungen verinnerlichen. Nicht stets kamen die Züge pünktlich an oder fuhren fahrplanmäßig ab. Gestört hat es die Wenigsten. Zeit war relativ.
Im Vergleich zu den Standardfahrpreisen in der 2. Klasse fuhr - und fährt - man stets preiswerter mit dem IR-Pass. 1975 etwa kostete das Hin- und Rückfahrtticket für eine Fahrt von Düsseldorf nach Rom umgerechnet 134 Euro, 1985 waren es knapp 218 Euro (siehe Tabelle in Teil 2). Heute kostet es 613 Euro mit dem Normalpreis (inkl. Eurostar und CityNightLine). Für alle Strecken gibt es Sonderangebote, zumal für Frühbucher. Kein Angebot bietet allerings die Flexibilität des IR-Passes.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2012-09-28)
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