Hinterm Horizont geht’s immer weiter
Mit dem 1972 eingeführten Inter-Rail-Pass wurde ein Instrument zur Völkerverständigung geschaffen, das bis heute unerreicht ist. Ein Rundblick. Teil 2.
Von Uwe Goerlitz (2012-09-28)
Mit dem IR-Pass sind vorwiegend junge Leute gereist, die auf preiswerte Weise ans Meer, an touristische Hotspots abseits von Bettenburgen gelangen und auf dem Weg dorthin etwas von der Landschaft sehen wollten. Sie reisten an Orte, von denen sie kaum bis gar nichts wussten, und an Orte, von denen sie gehört hatten, dass es dort magisch, genial oder was auch immer sei. Die Vorfreude beherrschte die Phantasie der Interrailer, zumal dann, wenn sie in Erdkunde aufgepasst hatten.
Oder aus dem Osten kamen, denn nach dem Mauerfall war die Reiselust der jungen Leute aus einigen in den IR-Verbund hinzugekommenen ehemaligen Ostblockstaaten enorm. Mit dem IR-Pass konnte ab 1991 in 27 Länder, bald darauf in 28 gereist werden. Knapp 400.000 Pässe wurden zu Beginn der 1990er Jahre verkauft, davon mehr als 60.000 in Deutschland.
Fahrpreise ab Düsseldorf für 2. Klasse Hin-/Rück im Vergleich zum Inter-Rail-Pass
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Jahr
| Barcelona | Lissabon | Marseille
| Palermo
| Rom | Stockholm | Wien | Inter-Rail
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| DM / € | DM / € | DM / €
| DM / €
| DM / € | DM / € | DM / € | DM / € |
1975 | 329/168 | 349/179 | 283/145
| 289/148
| 262/134 | 348/178 | 232/119
| 290/148
|
1977 | 353/180
| 394/201 | 302/154
| 288/147
| 266/136 | 386/197 | 237/123
| 339/173
|
1978 | 353/180 | 378/193 | 304/155
| 307/157
| 280/143 | 381/195
| 249/128
| 350/179
|
1981 | 449/230 | 486/249 | 381/195
| 359/184
| 328/168 | 410/210
| 297/152
| 395/202
|
1985 | 527/270 | 517/264 | 455/233 | 474/242
| 426/218 | 497/254
| 353/180
| 410/210
|
2012 | 1076/550
| 1197/566
| 653/334
| 1369/700
| 1199/613
| 1201/614 | 685/350
| 825/422
|
Quellen: Auslandkursbücher DB; f. 2012: Fahrpreisauskunft DB. Berechn. (ger.) v. Vf. |
Für die zuvor hinter dem Eisernen Vorhang eingeschlossenen jungen Leute eröffneten sich mit dem IR-Pass neue Welten, wie auch für die im Westen aufgewachsenen. Die Türkei zu durchreisen war für Letztere ebenso spannend wie für die Ost-Jugendlichen Westeuropa. Was für die Einen Istanbul, Izmir, Ankara oder Erzurum war, war für die Anderen Paris, Mailand, San Sebastián oder Madrid. Oder Amsterdam, Berlin, Brüssel.
Europa stand der gesamteuropäischen Jugend plötzlich so offen wie sie es sich wohl kaum je hatte vorstellen können. Der IR-Pass ermöglichte es, sich Kindheitsträume erfüllen zu können. Da war es egal, dass man mitunter in Zügen aus der Nachkriegszeit reiste, obwohl es bereits in einigen Ländern – zuschlagspflichtige - Hochgeschwindigkeitszüge mit 2.-Klasse-Wagen gab, etwa in Frankreich (TGV), Schweden (X2000) und Deutschland (Intercity).
Manche Züge mit klangvollen Namen existierten zu jener Zeit allerdings nicht mehr. Einerseits waren sie – zumindest aus Bahn-Sicht – auf Grund der Konkurrenz durch Fluggesellschaften aus dem Programm genommen worden, andererseits wegen kriegerischer Konflikte insbesondere im ehemaligen Jugoslawien. Der Hellas-Express beispielsweise, der in Dortmund startete und bis Athen fuhr, mit Kurswagen nach Sofia und Istanbul.
Indes, oft war auch der Weg das Ziel, denn während der Fahrt kam es zu interkulturellen Begegnungen, die nicht selten in der Änderung von Reiserouten mündeten, weil sich unterwegs ineinander verliebt wurde. Zur jugendlichen Völkerverständigung gehörte der Austausch von Körperflüssigkeiten häufig dazu. Mitunter gingen aus diesen Begegnungen Ehen und Kinder hervor.
Im Vergleich zu Flugbegleiterinnen, über die es despektierlich heißt, sie legten es darauf an, sich einen Piloten oder Co-Piloten zu angeln, hatten Interrailerinnen es eher nicht auf Lokführer abgesehen. Der Liebe oder Ähnlichem wurde zwar in vollen Zügen nachgegangen, aber auch an einsamen Stränden und wo immer es sich anbot.
1996 teilte die Deutsche Bahn im Verbund mit ihren europäischen Partnern das IR-Angebot in sieben Zonen ein - es konnten von nun an zonal gültige IR-Pässe gekauft werden, die preiswerter als der Monatspass waren -, was der inzwischen abgeflauten Attraktivität des Passes geschuldet war. Inwieweit die Autoindustrie am zurückgegangen Interesse Anteil hatte, ist nicht bekannt. Tatsache ist, dass sie in den frühen 1990er Jahren damit begonnen hatte, den Kauf von Neuwagen, meist Kleinwagen, jungen Leuten schmackhaft zu machen, indem sie ihnen erschwingliche Ratenzahlungen ermöglichte.
Einen Quantensprung vollzogen die beteiligten Bahngesellschaften mit Beginn des Jahres 1999, als sie einen IR-Pass für Kinder unter zwölf und für Erwachsene über 26 Jahren einführte, unter Beibehaltung des Passes für dazwischen liegende Altersgruppen. Zu diesem Zeitpunkt machten Billig-Airlines den Bahnen zu schaffen, allen voran die britische Ryan Air, die vorzugsweise auf ehemaligen Militärflugplätzen landete, die oft weit von den Zentren entfernt liegen.
Wahre Zugliebhaber hatten dafür bestenfalls ein müdes Lächeln übrig, doch allein mit passionierten Interrailern ließ sich nicht das große Geschäft machen. Es fehlte den Bahngesellschaften an einem tragfähigen Konzept für den in die Jahre gekommenen IR-Pass. Zwar befand man sich längst im High-Speed-Train-Zeitalter, das die Franzosen 1982 mit dem TGV eingeläutet hatten und in das die DB 1992 mit dem ICE eingetreten war, doch so richtig anfreunden konnten Interrailer sich mit diesen Zügen anfangs nicht. Die Züge waren zu schnieke, führten meist nur abteillose Großraumwagen mit sich und somit zu wenig Raum für die Entstehung der von Interrailern bevorzugten Intimität und jugendlichen Ausgelassenheit.
Es schien, als hätte sich die Magie des Zugreisens in Verbindung mit dem Kennenlernen Europas verflüchtigt. Mittlerweile waren exotische Ziele mit dem Flieger für kleines Geld erreichbar geworden. Die Dom-Rep lockte, Mexiko, Neuseeland sowieso und natürlich immer wieder die USA. Inter-Rail? Europa? Abgestanden, out, langweilig. All-inclusive-Arrangements beherrschten das Denken auch junger Reisender genauso wie das Entdecken neuer Länder und Regionen abseits des europäischen Kontinents.
So dauerte es eine Weile, bis der IR-Pass wieder attraktiv wurde, obwohl er für einige nie unattraktiv war. Hierzu bedurfte es auch einer neuen jungen Generation, die sich Europa erschließen wollte, bevor sie in die weite Welt hinaus reiste. Und es bedurfte der +26-Jährigen, von denen nicht wenige Inter-Rail kannten und genutzt hatten, als sie noch zu den jungen Leuten gehörten.
In den vergangenen 40 Jahren sind acht Millionen Menschen mit dem inzwischen in 32 Ländern gültigen und von 46 Nationalitäten erwerbbaren IR-Pass gereist, davon 1,3 Millionen Deutsche. 2011 waren es laut Auskunft der DB europaweit über 260.000, über 30.000 davon aus Deutschland.
Das mag sich im Verhältnis zu sämtlichen in diesen Zeiträumen verkauften Bahntickets nach nicht viel anhören. Bedenkt man jedoch, dass es sich um Tickets für Auslandsreisen handelt und berücksichtigt man, dass IR-Pass-Käufer vorwiegend Leute sind, die auf Urlaubs- und/oder Entdeckungsreise gehen, erhalten diese Zahlen eine völlig andere Aussagekraft.
Deutsche und Schweizer nutzen den IR-Pass am häufigsten (jeweils 15%), wie die DB mitteilt. Es folgen Franzosen, Italiener und Schweden (jeweils acht Prozent). Zu den beliebtesten Strecken zählen heutzutage Kopenhagen-Malmö-Stockholm, Brüssel-Paris, Berlin-Prag und viele klassische nach dem Süden und Südwesten Europas.
Seit Jonathan Swifts Gullivers Reisen gilt der Spruch: Wenn einer eine Reise macht, dann kann er was erzählen. Das können Interrailer, wie es sich beispielsweise auf der entsprechen IR-Webseite der DB und in der am 29. September 2012 beginnenden Ausstellung im DB-Museum (Nürnberg) nachlesen lässt. In den kommenden Wochen bietet auch GeoWis Reise- und Erlebnisberichte zu diesem Thema an.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2012-09-28)
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