Umnebelt
Alt-Bundeskanzler und Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt relativiert im Gespräch mit Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo den rigorosen Militäreinsatz gegen Demonstranten auf dem Tiananmen-Platz vom Juni 1989. Und noch mehr.
Von Wei Wang (2012-09-14)
Auf seine Kumpeln aus alten Tagen lässt der ehemalige Bundeskanzler und Kettenraucher Schmidt, inzwischen knapp 94, nichts kommen, ganz gleich, welche sinistre Rolle sie in der Weltpolitik und im Innern ihres jeweiligen Landes spielten. Den alten Haudegen Henry Kissinger zum Beispiel, verantwortlich für verschiedene Putsche in Lateinamerika und Südostasien, nennt er einen Freund. Nun ist jener Mann an der Reihe, der China vor mehr als 30 Jahren dem Westen öffnete: Deng Xiaoping.
In einer Audienz mit seinem Chefredakteur Giovanni die Lorenzo gibt der alte Hardliner Erstaunliches zu Protokoll. So versucht Schmidt das Vorgehen des Militärs, das das Massenzeltlager auf dem Tiananmen-Platz in Beijing mit Panzern überrollte, zu relativieren. Damals habe keine Polizei zur Verfügung gestanden und die Soldaten hätten nur das getan, was sie gelernt hätten, nachdem sie "mit Steinen und Molotow-Cocktails" beworfen worden seien.
Schmidt unterschlägt, dass zuvor das Kriegsrecht verhängt worden war, nachdem die von der lokalen Bevölkerung unterstützten Proteste, die im Übrigen mit einem kollektiven Hungerstreik der Studenten einhergingen, nicht abebbten. Durch Dengs und Hu Yaobangs rigorose Wirtschaftpolitik waren längst die Preise für Lebensmittel in die Höhe gegangen, was im April 1989 die Proteste mitauslöste.
Als wäre die verklärte Sicht der Dinge seitens Schmidts nicht bereits grotesk genug, schwadroniert der Alt-Kanzler auch noch über die Zahl der dabei getöteten Demonstranten, die ihm übertrieben vorkomme. Er beruft sich auf die Schätzungen der deutschen, englischen und amerikanischen Botschafter, die die Zahlen "damals deutlich niedriger" geschätzt hätten. Tolle Quellen.
Der BBC-Journalist und vehemente China-Kritiker Gordon Thomas kommt in seinem 1991 erschienenen Buch Chaos under Heaven zu einer gänzlich anderen Auffassung. Thomas hatte sich seinerzeit in Beijing aufgehalten und gilt als einer der wenigen europäischen Zeitzeugen von Rang, die qualifiziert über Tiananmen berichteten. Sein Buch ist eine Chronologie der Ereignisse, in dem Betroffene zu Wort kommen. Um 2600 Tote und 7000 Verletzte forderte - unter anderem Angaben des chinesischen Roten Kreuzes zufolge - der Militäreinsatz vom 4. Juni 1989.
Ist es Altersmilde, die Schmidt zum Relativismus neigen lässt? Ist es seine wahre Haltung, die er noch vor dem großen Sprung in die feuchte Erde kund getan haben wollte? Muss man sich ob seiner geistigen Beschaffenheit rasant Sorgen machen? Oder sollte man seine Äußerungen, die er gegenüber seinem Chefredakteur macht, einfach unter dem Titel 'geriartrisch bedingte Verbrämtheit' verbuchen?
Für Letzteres spräche, dass er gleich noch die Menschenrechte in die Rubrik "UN-Resolution" verortet, wohingegen einer der an der Formulierung der Menschenrechte beteiligten Autoren, der Franzose Stéphane Hessel (Essay: Empört euch), sie als universal - statt nur international - gültig betrachtet. Schmidt liegt somit in seiner Einschätzung völlig neben dem, was völkerrechtlich und historisch verbrieft ist. Erstaunlich.
© Wei Wang
© GeoWis (2012-09-14)
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