Bidet? Was ist das?
Inter-Rail-Reise 1975, Teil 1, Abschnitt: Essen-Luxemburg-Paris-Marseille-Nizza-Mailand-Lugano.
Von Jochen Henke (2012-10-02)
Das wichtigste Buch für unterwegs war das abgespeckte Auslandkursbuch - es gab auch eine Vollversion - der Deutschen Bundesbahn. Darin waren sämtliche westeuropäischen Fernzugverbindungen gelistet und die jeweiligen Streckenkarten abgebildet. Es hat 3,50 D-Mark gekostet und umfasste 340 Seiten.
Bevor es am 27. Juli losging, hatten mein Schulkamerad Hans und ich uns wochenlang intensiv mit den Fahrplänen auseinandergesetzt und mittels Kartenmaterials die Reiseroute nebst Zielgebieten festgelegt, wobei uns zu Gute kam, dass wir in Erdkunde immer gut aufgepasst hatten.
Im Army-Shop in Essen, in der Nähe des Limbecker Platzes, hatten wir uns kleine gebrauchte Ruck- und monströse Seesäcke, BW-Hosen, BW-Essbesteck, BW- Seitengewehr und allerlei sonstige nützliche Utensilien gekauft. Modische Jeans nach dem Geschmack unserer Mütter hatten wir auch im Gepäck.
Im eigenen Land waren 50 Prozent des normalen Fahrpreises zu bezahlen, weshalb wir - wie wohl die meisten Interrailer - den kürzesten Weg ins benachbarte Ausland nehmen wollten. Das war von unserem Standort aus das niederländische Venlo. Doch von Venlo aus kam man seinerzeit mit dem Zug nur umständlich nach Luxemburg, unserem ersten Ziel. Damals wussten wir noch nicht, dass das Großherzogtum eine Steuer- und Geldwäscheoase sei. Wir wollten lediglich das Sendezentrum unseres damals bevorzugten Radiosenders besuchen und nahmen die Strecke über Aachen und Lüttich (Liège).
Ins Sendezentrum erhielten wir keinen Einlass, weil wir es versäumt hatten, vorher einen Termin zu machen. Nun ja, wir waren beide knapp siebzehn und wahrscheinlich hielt man uns für seltsam. Vom Terminemachen hatten wir zuvor noch nie gehört. Der Park zum RTL-Gebäude war dann die Notlösung. Der Zug nach Paris, unserer nächsten Station, fuhr erst am späten Nachmittag. Es war heiß, wir legten uns ins Gras und schliefen ein.
Als wir wieder aufwachten, waren unsere Seesäcke durchwühlt, ein Teil meiner darin verstauten Reisekasse, Jeans und T-Shirts weg. Die kleinen Rucksäcke, die uns als Kopfkissen gedient hatten und in denen sich neben monetären Notreserven unsere Schweizermesser, Taschenlampen, die Bestecke, Billigkameras von Porst - viele Fotos haben wir nicht gemacht - und unsere Unterwegsliteratur befanden, hatten die Diebe sich offenbar nicht getraut, uns zu stehlen.
Auch die unter unserer Oberbekleidung versteckten Brustbeutel waren noch da. Darin befanden sich unsere Inter-Rail- und Reisepässe, die Personalausweise, die Impfpässe und der Großteil unserer Barmittel. "Fängt ja gut an", sagte Hans, aber die Reise konnte weitergehen.
Während der Fahrt nach Paris, vor allem, nachdem der lästige Grenzkontrollpunkt Longwy endlich überstanden war, hellte sich unsere Stimmung über die Episode in Luxemburg auf, zumal wir uns eingestanden, dass wir selbst schuld waren. Wir waren schlicht nicht davon ausgegangen, dass es im feinen Luxemburg Diebe gäbe, die schlafende Touristen im RTL-Park bestehlen würden.
Paris Gare de l‘Est war dann das erste Aha-Erlebnis. Nie zuvor hatte ich einen Bahnhof solcher Größe gesehen. Essen HBF und Düsseldorf HBF, selbst Köln HBF waren im Vergleich zum Pariser Ostbahnhof beinahe Fliegenschisse. Es war beängstigend voll und wuselig, aber wir konnten uns mit unserem noch brauchbaren Schulfranzösisch recht schnell orientieren und fuhren mit der Metro in die Innenstadt, um uns ein paar T-Shirts, Hemden und Jeans zu kaufen.
Von Paris sahen wir nicht allzu viel, denn der von uns präferierte Zug Le Mistral, ein Trans-Europ-Express (TEE 11), mit dem wir unser nächstes Ziel - Marseille - erreichen wollten und für den wir einen Zuschlag zu bezahlen hatten, fuhr schon mittags ab. Sightseeing in Paris fiel daher knapp aus. Sowieso ging uns das Gehabe um Paris bereits vor unserer Reise auf die Nerven, weil viele unserer Klassenkameraden da auf jeden Fall hinwollten. Wir waren wohl Sonderlinge und wollten uns erst zum Ende unserer Reise mehr Zeit für die Stadt nehmen.
Mit der Metro ging es zum ebenfalls beeindruckenden Gare de Lyon, dem Abfahrtsbahnhof nach Frankreichs Süden. Sechs Stunden und vierzig Minuten Fahrt für gut 860 Kilometer. Doch abends anzukommen, war für uns kein Problem.
Im Mistral waren nur wenige Interrailer unterwegs. Das mag am Zuschlag gelegen haben. Wir trafen auf US-Amerikaner und Australier, die sich Europa per Zug erschließen wollten und sich als äußerst feierwütig erwiesen. "I can’t believe that Europe’s so fucking liberal. I mean, in the US it’s hard to get alcohol when you’re under age 21", sagte Jake ein paar Mal. Er hatte sich in Pariser Supermärkten mit einigen Flaschen Rotwein eingedeckt - wie auch seine fünf Freunde (Sarah, Daphne, Greta, Harry, Paul) und die Aussies (Michael, Richard, Nicole) - und lud uns so lange ein, bis ihr Vorrat und wir alle erschöpft waren.
In Marseille-Saint-Charles wurden wir von Hans‘ Onkel abgeholt, der seit seiner Pensionierung aus der Fremdenlegion mit Frau und 15-jähriger Tochter in der berüchtigten Hafenstadt lebte und privat einen R16 fuhr. Er hatte in Indochina und in Algerien gekämpft, wollte aber nicht im Detail darüber reden. Stattdessen zeigte uns einen Sherman-Panzer, der als Mahn- und Denkmal erhalten wurde.
In seiner Wohnung sah ich erstmals ein Bidet und fragte mich, wozu das gut sein sollte. Ich kannte keine Haushalte, in denen es Bidets gab und traute mich nicht zu fragen, was das sei. In den Cafés und Kneipen, die wir in den folgenden Tagen aufsuchten, gab es ebenfalls sanitäre Besonderheiten, die wir aus unserer Heimat nicht kannten: die Toiletten.
Quadratische Keramikbecken mit einem Abflussloch, gerillten Fußträgern und einem Trittstutzen für die Spülung, dazu an den Wänden verchromte Haltegriffe. Seine Notdurft musste man also ohne Sitzgelegenheit verrichten. Und wenn man die Spülung mit dem Fuß betätigte, schwamm sie einem zunächst um die Füße, bevor sie im Abfluss verschwand.
Den pensionierten Fremdenlegionär, der nebenbei als Auslieferungsfahrer für Keramik- und Glasgeschirr arbeitete, begleiteten wir einige Tage auf seinen morgens gegen sechs Uhr beginnenden Touren in einem Renault Estafette. Er belieferte Einzelhändler und Lokale.
So gelangten wir in Marseilles östliche Peripherie und in Dörfer und Kleinstädte entlang der nach Osten führenden Straßen - Aubagne, Cuges-les-Pins, Cassis, la Ciotat, Carnoux-en-Provence, Roquefort-la-Bèdoule, Saint-Cyr-sur-Mer, Ollioules, le Beausset, Cadièrs-d’Azur, Brignoles, Cuers, Toulon, Hyères und viele weitere Orte. Zu jedem wusste der Ex-Legionär, der etwa Ende 50 war, eine Geschichte zu erzählen.
Wir fanden, Frankreich sei das beste Land der Welt und die Gegend zwischen Marseille und Nizza die allerbeste. Auch, weil uns die historische Architektur in den Dörfern und Kleinstädten faszinierte und wir die Gelassenheit der Einheimischen genossen, die sich besonders beim Boule-Spiel zeigte. Doch die Attraktion war Marseille. Hans wusste viel über die Stadt, weil er seinen Onkel schon zweimal in den vorangegangenen Sommerferien besucht hatte. Über das Bidet hatte er sich daher nicht gewundert.
Für mich war Marseille in zweifacher Hinsicht eine Premiere: Ich war zum ersten Mal in einer Hafenstadt und am Meer. Abends führte uns Hans‘ Onkel durch die kleinen Gassen und schmalen Straßen im Vieux Port, zeigte uns Ecken, in die wir selbst tagsüber nicht allein gehen sollten, erzählte von den Deutschen, die 1943 einen Teil der Altstadt in die Luft gejagt hatten, weil sich dort der örtliche Widerstand gegen die Nazis im Untergrund hielt, und machte uns mit einigen seiner Boule-Partner bekannt.
Dann mussten wir weiter. Nächstes Ziel: Nizza. Dort waren wir mit Schulkameraden verabredet, die ebenfalls per Inter-Rail unterwegs waren. Wir fuhren früh los, damit wir noch am Vormittag dort einträfen, somit viel vom Tag hätten. Zeitweilig führte die Strecke am Meer entlang. Halts gab es in Cannes, St. Raphaël und Antibes, doch fürs Mondäne hatte ich kein Auge.
Nizza war mit Marseille nicht zu vergleichen. Alles wirkte sauberer und touristischer als in der verruchten und berüchtigten Hafenmetropole. Alles war teurer. Der Milchkaffee kostete sechs Franc - in Marseille gab es ihn im Vieux Port für die Hälfte - und auch Baguette und Käse kosteten mehr. Wir trafen unsere Freunde, streiften ein wenig durch die Stadt und fuhren dann mit dem Bus auf die Halbinsel St.-Jean-Cap-Ferrat, wo wir uns einen Platz am Strand zum Spaßhaben und Übernachten suchten, teuren Käse verspeisten und billigen Rotwein bis zum letzten Tropfen tranken.
Tags darauf ging es für alle weiter. Unsere Freunde hatten Spanien, wo gerade General Franco abgekratzt war, die Sozialisten die Macht übernahmen und König Juan Carlos mit seiner Königin Sofia neues Selbstbewusstsein zur Schau stellte, und Portugal auf dem Plan, wo es ein Jahr zuvor einen Militärputsch und dann die Nelkenrevolution gegeben hatte.
Wir wollten nach Lugano. Hans war Hermann-Hesse-Fan, hatte den Steppenwolf und Klingsors letzter Sommer im Gepäck, während ich Henri Charrières Papillon, Ausgabe Bertelsmann Buchclub, dabei hatte. Hans wollte unbedingt die Casa Camuzzi sehen, in der Hesse lange gewohnt hatte. Mein Interesse an Hesse und Lugano war wenig ausgeprägt. Aber: Wir waren gemeinsam unterwegs und hatten uns vor Antritt der Reise darauf geeinigt.
In Ventimiglia, dem italienischen Grenzbahnhof zu Frankreichs Côte d’Azur, herrschte Überfüllung und Gedränge auf den Bahnsteigen. Endlose Absperrgeländer führten zur Passkontrolle. Überall standen Carabinieri herum, die missmutig darauf achteten, dass die vielen Backpacker sich richtig einordneten. Hundeführer patroullierten die Reihen, um Leute mit Cannabis aufzuspüren. Nicht mal fotografieren durfte man. Manche taten es trotzdem. Nach gefühlten zig Stunden gelangten wir schließlich in den Schnellzug nach Mailand. Wir hatten Glück, indem wir Abteilplätze ergattern konnten.
Als der Zug sich endlich in Bewegung setzte, gab es in den Gängen kaum noch ein Durchkommen. Der Stimmung tat das keinen Abbruch. Es wurde fröhlich geplaudert, gekifft und gesungen; manche wippten zu Musik aus batteriebetriebenen Kofferradios und tragbaren Kassettenrekordern oder zu Klängen mitgeschleppter Gitarren, und ständig ertönte aus irgendeinem Radio das Eagles-Stück One of these Nights. Draußen hatte es um 35° Celsius; drinnen war es kühler, denn sämtliche Fenster waren nach unten gezogen. Den Kopf gegen den Fahrtwind zu halten, war obligatorisch.
Nach sieben Stunden erreichten wir Mailand und waren zunächst baff. Was für ein monumentaler Bahnhof! "Hat Mussolini gebaut", wusste Hans mitzuteilen. Dagegen waren Paris-Nord und Gare de Lyon fast mickrig. Während die meisten Interrailer und Backpacker ihre Anschlüsse nach Florenz oder Rom nicht verpassen wollten, hatten wir etwas Zeit. Kaum jemand wollte nach Lugano. Ich schlug vor, dass wir uns die Stadt ansehen, aber Hans war nicht in Stimmung. Ohnehin hatte er fast die gesamte Strecke in Klingsors letzter Sommer gelesen, alldieweil ich es bevorzugte, ein paar Kontakte zu knüpfen.
So lernte ich Mia aus Boston kennen, die mit drei Freundinnen unterwegs war - und noch drei Jahre lang Karten aus ihren jeweiligen Urlauben an mich schrieb. Sie hatten bereits "Paris gemacht" und wollten fortan "Italien machen" - Florenz, Pisa, Rom, Neapel. Auch bei Guus und seiner Freundin, ihren Namen habe ich vergessen, aber sie waren Holländer, standen Florenz und Rom auf der Route. Geoffrey aus Norwich, England, reiste mit seiner Klampfe und wollte weiter nach Wien. Schnell waren wir beim Vietnamkrieg, der wenige Monate zuvor für beendet erklärt worden war. Die Ami-Mädels wetterten am heftigsten über diesen Krieg. Ich glaubte, dass sie sich für ihr Land schämten.
© Jochen Henke
© GeoWis (2012-10-02)
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