Offen für alles
Inter-Rail-Reise 1975, Teil 2, Abschnitt: Lugano-Innsbruck-Salzburg-Belgrad-Athen.
Von Jochen Henke (2012-10-02)
Lugano war überhaupt nicht nach meinem Geschmack. Klar, schöne Gegend schon ab Chiasso, dem Grenzübergang zur Schweiz, und wunderbare Aussichten auf die südlichen Ausläufer der Tessiner Alpen. Aber das Städtchen war nichts für mich. Piefig, ultrasauber, nicht die Spur spannend. Und überall wurde Italienisch gesprochen. Mit Englisch kamen wir gar nicht, mit Französisch nur bedingt weiter. Auch Hans war etwas frustriert, wollte aber unbedingt nach Montagnola zu Hesses Wohn- und Sterbestätte. Ich nicht.
Erstmals gab es Dissonanzen - wir waren gerade zehn Tage unterwegs -, weshalb er, nachdem wir in einem Hotel für sündhaft teure 45 SFR eingecheckt hatten, Montagnola aufsuchte und ich mich am Luganer See und im Ort umsah. In einem der Migros-Supermärkte kaufte ich etwas Obst, eine Limonade, die sich als pures Zuckerwasser erwies, und einen Kanten Appenzeller. Ich wollte auch ein Baguette kaufen, ließ aber davon ab, weil die nicht an die Qualität heranreichten, die ich aus Frankreich gewohnt war.
Also nahm ich den Spruch von Hans‘ Onkel wörtlich, der lautete, Käse öffne den Magen und Käse schließe ihn. Freilich darauf bezogen, dass ein richtiges Essen dazwischen zu liegen hätte. Ich öffnete und schloss ihn mit dem Kanten und musste mir eingestehen: Appenzeller sättigt ungemein.
Mir gingen die Eagles nicht aus dem Kopf. Ständig summte ich One of these Nights vor mich hin, bis ich schließlich entschied, ein Kaufhaus aufzusuchen, um das Album zu kaufen. Ich ließ es mir robust einpacken und hatte fortan ständig die Befürchtung, dass es unterwegs zerbrechen oder mir abhanden kommen könnte.
Eigentlich waren zwei Übernachtungen in Lugano eingeplant, allerdings in der Jugendherberge. Die aber war komplett ausgebucht und weil wir bereits einen Tag länger als vorgesehen in Marseille verbracht hatten, ging es tags darauf in Richtung unseres nächsten planmäßigen Zwischenziels: Ljubljana, genauer: Postojna. Dort liegen die weltberühmten Tropfsteinhöhlen, die wir uns ansehen wollten. Von Lugano aus funktionierte das nur über Mailand.
Von dort hätten wir über Verona, Vicenza, Venedig und Tarvisio die kürzere Strecke nehmen können, aber wir wollten noch ein wenig Alpenpanoramen mitnehmen. Also bestiegen wir den Schnellzug nach Verona, um dann in Innsbruck nach Salzburg umzusteigen. Es kam zunächst anders, denn im D 1480 (Brenner-Innsbruck) lernten wir eine Innsbruckerin kennen, die Hans so gut fand, dass wir in Innsbruck ausstiegen, uns von ihr die Stadt zeigen ließen und eine Nacht im Haus ihrer Eltern verbringen durften. Das war ja das Schöne an Inter-Rail: Man konnte aussteigen, wo immer man wollte, und musste nur darauf achten, dass man zur Weiterreise die korrekte Eintragung vor Fahrtantritt vornahm.
Hans verknallte sich in die Innsbruckerin und war tags darauf nur unter größter kommunikativer Anstrengung von mir dazu zu bewegen, unsere Reise fortzusetzten. Doch Postojna war nun nicht mehr zu schaffen, weil wir sonst zu spät in Athen bei unseren Wochen zuvor per Brief gebuchten Jugendherbergsschlafplätzen angekommen wären. Nach Athen wollten wir nicht mit irgendeinem Regionalzug reisen, sondern mit dem Hellas Express, der von Dortmund aus die griechische Hauptstadt anfuhr. Unser Zustieg erfolgte in Salzburg.
Wer damals mit dem Hellas Express gen Süden fuhr, weiß, was in diesem Zug los war. Erstens war er zum Bersten voll; zweitens war es ein Folklore-Zug, in dem so genannte Gastarbeiter aus Jugoslawien, der Türkei und Griechenland die Mehrzahl der Reisenden bildeten, die drittens Fernsehapparate, Kühlschränke, Waschmaschinen und andere Gerätschaften Made in Germany in ihre Heimat verbrachten. Weil in den vollbesetzten Abteilen für die sperrigen Geräte kein Platz war, wurden sie im Gang platziert. Viertens hielt der Zug nicht das, was wir uns unter dem Begriff Express vorstellten.
In den Abteilen wurde auch lebende Wegzehrung gehalten. Kaninchen und Hühner in Käfigen. Dritte Welt mitten in Europa. Immerhin machten die Zöllner am Grenzübergang Jesenice (heute Slowenien) nicht so einen Aufstand wie in Ventimiglia.
Bei den Stopps auf jugoslawischem Territorium wurde den Hühnern auf dem Bahnsteig kurzerhand der Kopf abgeschlagen und den Karnickeln mit einer Taschenlampe oder einem kleinen Knüppel der ihrige zertrümmert. Im Abteil wurden die Hühner gerupft, die Karnickel enthäutet. Dann wurden sie gegrillt. Die Schaffner gaben sich entspannt, während wir aus dem Staunen nicht herauskamen und den Zug zwischendurch als Höllen-Express empfanden, in dem sich zu unserem Leidwesen nur vereinzelt Interrailer befanden.
Ums Essen und Trinken brauchten wir uns allerdings nicht zu sorgen. Türken, die in Kurswagen nach Istanbul saßen, luden uns zu Köfte und Hühnchen ein; Jugoslawen, die nach Zagreb, Sarajewo, Belgrad, Nis oder Skopje fuhren, schoben Kaninchenbrust rüber; Griechen, die nach Thessaloniki, Larissa oder Athen mussten, verköstigten uns mit eingelegten Dolmadakia (mit Reis gefüllte Weinblätter in Olivenöl) und immer wieder Weißwein. Alles schmeckte vorzüglich.
Zwanzig Kilometer vor Belgrad hatte ein Erdrutsch die Schienen aus der Spur gedrückt und den Hellas Express mehrere Stunden zu einem Zwangshalt genötigt. Nachdem fleißige Gleisbauer die Sache in Ordnung gebracht hatten, gab es einen zweistündigen Aufenthalt in Belgrad, den wir nutzten, um die Gegend um den Bahnhof und den Rand der Innenstadt zu erkunden.
Völlig neue Welt. Belgrad - die so genannte weiße Stadt - überraschte uns mit ihrer herausragenden klassizistischen Architektur (das Adjektiv war uns damals noch nicht geläufig) und den vielen Kopfsteinpflasterstraßen. Wir hatten ja keine Ahnung von der Schönheit dieser Stadt, und hätten wir bei unserer Reiseplanung eine gehabt, wäre Belgrad auf jeden Fall als Mehrtageaufenthalt vorgesehen gewesen. So aber spazierten wir lediglich mit großen Augen umher. Leider kam es uns nicht in den Sinn, wenigstens eine Nacht in dieser schönen Stadt zu verbringen. Wir waren auf Athen fixiert.
Der nächste nennenswerte Halt war Nis (heute Serbien). Dort stiegen alle aus, die nach Bulgarien und der Türkei weiterreisten. Die türkische Familie, mit der wir das Abteil geteilt hatten, deckte uns mit Schafskäse und mit Gemüsestreifen gefüllten Fladenbrotdreiecken ein. In Gevgelija/Idomeni war der Grenzübertritt nach Griechenland. Letztmalig hatten wir Pässe und Tickets vorzuzeigen. Ans Einschlafen war danach nicht mehr zu denken. Wenige Stunden später rollte der Hellas Express in Thessalonikis Hauptbahnhof ein.
Von Thessaloniki waren es - über Larissa - noch sechs Stunden bis Athen, die ich teils dösend verbrachte, während Hans einen Brief an seine Innsbruckerin schrieb und Notizen in sein Reisetagebuch machte. Zwar führte ich auch ein solches, machte meine Eintragungen aber lieber am jeweilgen Ort. Im Zug war es mir schlicht zu ruckelig.
Doch die Landschaft war faszinierend, insbesondere während des Abschnitts durch das Tembital, wo - je nach Perspektive - rechts der Olymp und links der knapp 2000 Meter hohe Ossa einen würdigen Rahmen bilden und in der Mitte der Tembi durchs Tal fließt.
Als wir Athen erreichten, regnete es leicht bei ca. 35° C im Schatten. Hans war etwas genervt, vor allem aber war er übermüdet. In der Jugendherberge wunderte sich der junge Mann hinter der Rezeption, nachdem wir unsere Reservierungen vorgelegt hatten, und verwies aufs Datum. Wir seien leider einen Tag zu spät. Das war uns auch klar. Er habe nur noch Plätze auf dem Dach frei und dafür nur Schaumstoffmatratzen. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir akzeptierten mangels Alternative.
Auf dem Dach war Hochbetrieb. Ein Meer an Backpackern sämtlicher Altersklassen, die meisten Leute jedoch unter 30. Es gab kaum noch freie Stellen, um unsere Matratzen auszulegen. Hans war nun ziemlich angefressen. Mir machte das alles nichts aus. Die Aussicht auf die Dächer von Athen entschädigte für die Strapazen und Unwägbarkeiten. Inter-Rail war nun mal keine Pauschalreise. Es war Abenteuer. Und darum ging es.
© Jochen Henke
© GeoWis (2012-10-02)
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