Scheidewege
Inter-Rail-Reise 1975, Teil 3, Abschnitt: Athen-Zürich-Paris-Essen.
Von Jochen Henke (2012-10-02)
"Ich reise Morgen früh wieder ab", sagte Hans. Ihn störte angeblich der leichte Regen, dem wir auf dem Dach ungeschützt ausgesetzt waren. Er ließ sich weder von mir noch von anderen Backpackern, die schon einige Nächte auf dem Flachdach hinter sich hatten, davon überzeugen, dass die kurzen Schauer doch eine willkommene Erfrischung seien und alles sehr schnell wieder trockne. Das röche dann muffig, lautete seine Replik.
Es kam zum zweiten Mal zu Dissonanzen. Ich war nicht geneigt, sozusagen umgehend wieder zurückzufahren. Ich hatte Athen, Piräus und eventuell eine Fährfahrt auf eine der Inseln im Saronischen Golf auf dem Programm.
Hans hatte die Innsbruckerin im Kopf. Dafür hatte ich Verständnis, denn, hey! Wir waren in Europa unterwegs, waren Teenager, waren neugierig. Was gab es Schöneres als sich unterwegs in jemanden zu verlieben? Vor allem, wenn man zu Hause keine Freundin hatte. Hans hatte keine. Es war pure Völkerverständigung ohne Zwang.
Trotzdem war ich mittelprächtig sauer. Mein Credo lautete: Wenn man zusammen losfährt, kommt man auch zusammen wieder zurück. Kumpelehre. Hans sah das im Prinzip genauso. Wie sich zeigen sollte, ging das auch über Umwege. Aber klar: Ich hätte mir auch eine richtige Liebelei gewünscht, war also eifersüchtig.
Wir vereinbarten, uns in genau zehn Tagen zwischen drei und vier Uhr nachmittags auf der Herrentoilette des Züricher Hauptbahnhofs zu treffen. Eine verrückte Idee, aber wir hatten keine bessere. Und Zürich lag ja auf unserer Rückreiseroute. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Hans bereits abgereist und ich dachte: Was für eine vermaledeit dämliche Idee! Leck mich! Kein Bock drauf. Ich war jetzt allein in Athen und wollte es entdecken.
Gegen 10.00 Uhr setzte ich mich in der Nähe des Omonia-Platzes auf die Terrasse eines kleinen Lokals, frühstückte ausgiebig und studierte den Stadtplan. Zunächst stand die Plaka, das historische Stadtviertel, auf meiner Agenda. Das ließe sich gemütlich zu Fuß erreichen, wie ich annahm. Es war ein wenig ungewohnt. Bisher hatten Hans und ich bis auf den Tag in Lugano alles gemeinsam unternommen. Die neue Situation aber musste gemeistert werden.
Ich spazierte eine Weile in der Innenstadt umher. Auffällig hohe Polizeipräsenz allerorts, was auch daran lag, dass die Demokratie erst vor einem Jahr zurückkehrte, nachdem das Militärregime zum Teufel gejagt worden war. Es war ja nicht so, dass wir in der Schule nichts gelernt hatten.
Trotz meines bis dahin ausgeprägten Orientierungssinns und des Stadtplans verlief ich mich und entfernte mich immer weiter von der Altstadt. Versuche, auf Englisch nach dem Weg zu fragen, schlugen komplett fehl.
Niemand der Angesprochenen, darunter zwei Verkehrspolizisten, verstand oder sprach Englisch. Es war frustrierend. Letztlich fand ich zurück zum Omonia-Platz, setzte mich wieder in das Frühstückscafé und sprach unvermittelt eine junge Griechin an, die zu meiner Überraschung sofort auf Deutsch fragte, ob ich Deutscher sei.
Der Tag ist gerettet, dachte ich. Es stellte sich heraus, dass sie an der Freien Uni in West-Berlin Germanistik und Geschichte studierte, fast sechs Jahre älter als ich war und ihre Großeltern hier den Sommer über besuchte. Sie hatte nichts Konkretes vor und bot an, mir die Altstadt und die Akropolis zu zeigen. Ich konnte nicht ablehnen. Sie war einfach zu sympathisch, unglaublich hübsch und hat höflich geschmunzelt, als ich ihr erzählte, ich sei mit dem Zug angereist. Sie sei geflogen.
Es sollte eine unvergessliche Zeit werden. Chrysula, so ihr Name, zeigte mir während der folgenden Tage alles: die Plaka mit ihren unzähligen Tavernen, Gassen, Treppen, Diskos auf Dachterrassen - in denen die aktuellen Phili-Hits von George McCray bis The O'Jays runtergenudelt wurden -, die Akropolis, den Hafen von Piräus, die Inseln Salamis und Ägina und ihr Sommerzuhause bei ihren Großeltern nebst ihrer kleinen Einliegerwohnung, in der ich mit ihr auf unkomplizierte Weise wohnen durfte. Ich bekam Gelegenheit, meine Eagles-LP aufzulegen und wir tobten uns aus.
Auf der Rückfahrt fand ich dann Zeit, in Papillon zu lesen, ohne zu verinnerlichen, was ich las. Denn schon bei der Abfahrt aus Athen hatte ich mich gefragt, was für ein Döspaddel ich sei, überhaupt abzureisen, um Hans in Zürich zu treffen. Chrysula hatte mir angeboten, so lange zu bleiben, wie ich wollte. Nun kreisten meine Gedanken um sie.
Hans war tatsächlich am vereinbarten Treffpunkt. Meine Freude darüber war verhalten und auch er fiel mir nicht gerade in die Arme. Irgendwie waren wir überrascht, dass wir uns an unsere Abmachung gehalten hatten und erklärten uns gegenseitig für bescheuert, nachdem wir uns unsere Erlebnisse erzählt hatten.
Über Basel-SNCF reisten wir mit dem L’Arbalète, einem TEE, nach Paris, grasten die touristischen Attraktionen ab, gaben bezüglich unserer Verhältnisse monstermäßig viel Geld für Kaffee, Essen und Übernachtung aus und gingen uns gegenseitig auf die Nerven mit Moni - so der Name der Innsbruckerin - und Chrysula.
Am letzten Abend unternahmen wir eine kolossale Weinprobe irgendwo in Montmartre und wurden erneut beklaut. Nichts Weltbewegendes, aber lästig. Mit einem weiteren TEE (Molière) traten wir dann die Heimreise an, stiegen in Köln um und ratterten dann mit einem D-Zug nach Essen. Die Eagles-LP habe ich unversehrt mit nach Hause gebracht.
Hans und Moni haben sich einige Wochen später bewusst wiedergetroffen, fünf Jahre danach geheiratet und recht bald nacheinander zwei Mädchen in die Welt gesetzt, die als Studentinnen in den frühen 2000ern einige Urlaube mit dem Inter-Rail-Pass gemacht haben. Ich habe Chrysula nie wiedergesehen. Das Reisen insgesamt, vorzugsweise mit dem Zug, hat mich allerdings nicht mehr losgelassen.
© Jochen Henke
© GeoWis (2012-10-02)
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