Stadt im Nebel
Chongqing wird häufig als größte Stadt der Welt bezeichnet, was sie nicht ist. Superlative gibt es dennoch ausreichend. Teil 1.
Von Uwe Goerlitz (2013-01-24)
Seit Mitte 1997 geistert die Mär durch die Fachliteratur und sonstige Medien, Chongqing sei die größte Stadt der Welt. Sie habe rund 30 Millionen Einwohner und eine Fläche von 82.000 qkm. Das entspräche der dreieinhalbfachen Bevölkerungszahl und knapp der Fläche Österreichs. Keine Stadt oder urbane Zone auf diesem Planeten weist bislang derartige Ausmaße auf. Tatsächlich sind diese Einwohner- und Flächenangaben auf die Provinz Chongqing zu beziehen, die 1997 von der Provinz Sichuan administrativ abgetrennt worden war. Eine Abgrenzung zur Metropolitanen Region, Agglomeration und/oder verstädterten Zone wird häufig nicht vorgenommen.
Die Metropolitane Region der Stadt Chongqing mit ihren neun Distrikten weist eine Fläche von rund 5.475 qkm auf, was weit mehr als der Fläche des Ruhrgebietes entspricht (4.435 qkm), aber nur 6,2 % der der Provinz Chongqing. Knapp acht Millionen Einwohner (Ruhrgebiet: 5,172 Mio.), somit 38 % der Provinz, verteilen sich in der Stadt und deren ruralen Bereichen.
Zu Letzteren zählen die überwiegenden Teile der drei flächengrößten Distrikte Banan, Beibei und Yubei, die zusammen 4.034 qkm aufweisen und zirka 3,35 Mio. Einwohner beherbergen. Die übrigen sechs Distrikte bilden das verstädterte Kerngebiet (Chongqing Urban Area/CNGUA) mit rund 4,55 Mio. Einwohnern auf der administrativ definierten Fläche von 1.441 qkm. Die Verstädterung reicht allerdings in die ans Kerngebiet grenzenden drei genannten Distrikte hinein, weshalb eine exakte Abgrenzung schwierig ist.
Chongqing (CNGUA) breitet sich weitläufig auf und zwischen den Hügeln des Gele-Gebirges aus, weshalb die Metropole auch als Bergstadt bezeichnet wird. Von Norden nach Süden schlängelt sie sich auf zirka 90 km den Yangtze entlang und überschreitet ihn und den Jialing nach Westen. Nach Osten dehnt sie sich bei abnehmender Urbanisierung fast 20 Kilometer bis in mittlere Höhen von ungefähr 500 Metern aus. Noch, denn die Stadt wächst weiter.
Als Central Business District (CBD) gelten Yuzhong, der an der Südflanke des Yangtzes liegende nördliche Bereich von Nan’an und der gegenüber liegende südliche Teil von Jiangbei.
Im CBD sind gleichwohl Häuser nationaler und internationaler Vier- und Fünfsterne-Hotels angesiedelt, etwa Hongyadong, Harbour Plaza, Empark Grand, Radisson, Hilton, Marriott, Intercontinental, Crowne Plaza Riverside, Sheraton. Insgesamt gibt es zurzeit in der Metropole knapp 1100 Hotels.
Die Wintermonate, speziell der Januar, sind sicherlich nicht die beste Zeit, Chongqing (zu deutsch früher: Tschungtsching) zu besuchen. Die Metropole am Yangtze (Chang Jiang) liegt dann häufig unter einer Dunstglocke aus Abgasen und Nebel, und der drittgrößte Fluss der Welt ist selbst von einer der über ihn führenden wuchtigen Brücken tagsüber fast nicht zu sehen.
Auch der im Stadtzentrum Chongqings (Yuzhong) unweit der 2009 fertiggestellten Chaotianmen-Brücke in den Yangtze mündende Jialing (Jialing Jiang), mit 1120 km etwa so lang wie die Elbe (1094 km) und mit ähnlich großem Einzugsgebiet (148.300/160.000 qkm), ist dann kaum auszumachen. Für Fotografen, die die Schönheit und Erhabenheit dieses Zusammenflusses festhalten wollen, ist also in den trüben Monaten überwiegend Sauregurkenzeit.
Mehr als dreieinhalb Millionen Kraftfahrzeuge, darunter moderne, aber auch noch viele alte Busse des Herstellers Hengtong, und Kleintransporter, die stark bleihaltiges Benzin mit 90 oder im minimalen Bereich bleifreies Benzin mit 93 Oktan verbrauchen, Mopeds mit Gemischtkraftstoff und eine Reihe von Kohlekraftwerken sorgen dafür, dass – wie jüngst - die Smogwerte im Stadtgebiet bei ungünstigen Witterungsbedingungen mitunter die gesundheitlich als unbedenklich definierten Grenzwerte um ein Mehrfaches überschreiten.
Wofür auch gut 2800 Unternehmen der Schwerindustrie mitverantwortlich sind, die in der Metropolitanregion produzieren. Selbst in den nicht mehr ganz so verkehrsreichen Außenbezirken der Megastadt macht der Dunst Nichtraucher-Bronchien zu schaffen.
Die Stadt Chongqing erhielt im März 1997 auf Grund eines Beschlusses während des 8. Nationalkongresses als vierte Stadt neben Beijing, Shanghai und Tianjin den Sonderstatus Regierungsunmittelbare Stadt, was bedeutet, dass sie direkt von der Parteiführung Chinas kontrolliert wird. Zusätzlich genießt sie einen gewissen Sonderwirtschaftsstatus ähnlich Shenzhen und Guangzhou, jedoch nicht wie die ehemalige britische Kronkolonie Hong Kong.
Kurz danach begann ein bis heute anhaltender Bau-Boom, der auf Grund der Privatisierung von Boden in Gang gesetzt werden konnte. Chongqings Stadtplaner und Architekten machten es sodann wie ihre Kollegen in Beijing, Shanghai und Shenzhen: Sie bauten – und bauen - nahezu uniform in die Höhe. So entstanden während der vergangenen 15 Jahre im gesamten Kerngebiet Wohngebäude mit meist 30 und mehr Stockwerken, mehrheitlich mit Eigentumswohnungen.
Ganz gleich über welche der die Stadt durchschneidenden Trassen oder über welche aus ihr hinausführenden Straßen man fährt – überall ragen die Wohn-Wolkenkratzer aus der Landschaft heraus. Zuweilen von Weitem sichtbar, mitunter unvermittelt. Die Stadt, von November 1937 bis Oktober 1945 unter dem nationalchinesischen Kuomintang-General Chiang Kai-chek für acht Jahre Chinas Hauptstadt, kann auf den ersten Blick auf Touristen monströs, gar abschreckend wirken. Für Liebhaber von Mega-Städten allerdings kaum.
Zum monströs Wirkenden tragen die innerstädtischen Trassen- und Brückenauffahrten genauso bei wie die Hochbahnlinien.
Diese Art Verkehrsinfrastruktur ist der geographischen Lage der Stadt und deren geologischen Untergrunds geschuldet. U-Bahn-Bau ist wegen der beiden Flüsse und der geologischen Verhältnisse nicht möglich, weshalb das Hochbahnprinzip - wie beispielsweise in der nordmexikanischen Metropole Monterrey - verfolgt wird.
Die vielen Brücken über den Jialing und Yangtze erfordern innermetropolitane Auf- und Abfahrten wie man sie sonst nur aus den USA oder Japan kennt. Was in Deutschland geradezu stadtplanerisch als undenkbar gälte und zu Protesten der Wohnbevölkerung und einschlägiger politischer Parteien führte, ist in Chongqing schlichte Notwendigkeit.
Chongqing Urban Area gilt neben Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, als Tor zum wirtschaftlich noch weitgehend vernachlässigten Westen Chinas. Im Hinblick auf Internationalität hinkt Chongqing den vorgenannten Mega-Städten noch hinterher. Selbst Chengdu, etwa 350 Kilometer weiter nordwestlich gelegen, beherbergt mehr internationale Unternehmen als die Stadt am Yangtze.
Mit ausländischen Direktinvestitionen von rund acht Milliarden Dollar (2011) rangiert sie im Vergleich zu Chengdu, Shanghai, Beijing, Shenzhen, Guangzhou und Hong Kong noch einigermaßen abgeschlagen. Innerhalb Chinas hat die Stadt indes ein enormes Standing, was sich bereits am 20 Kilometer nördlich vom Stadtzentrum entfernten Flughafen Jiangbei feststellen lässt.
Das Terminal für innerchinesische Airlines ist ungleich größer als das - gut 500 Meter abseits platzierte - für internationale, von dem aus Flieger nach Seoul, Bangkok, Hong Kong, Macau und Helsinki starten. Als sogar einzige europäische Fluggesellschaft fliegt zurzeit Finnair von Helsinki aus Chongqing in etwas über acht Stunden direkt an.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2013-01-24)
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