Kleinod in der Megastadt
Chongqing hat viel zu bieten. Ein wahres Muss ist der Besuch der Altstadt. Dort kann man Traditionelles geradezu einatmen.
Von Uwe Goerlitz (2013-01-27)
Einer von Chongqings größten Bewunderern vergangener Tage, Time-Gründer Henry Luce (1898-1967), würde die Stadt heute nicht mehr wiedererkennen, denn das alte Chongqing, das zu seinen Lebzeiten existierte, gibt es kaum noch. Wie es einst aussah, lässt sich noch am ehesten in Shapingba am Südwestufer des Jialing in Augenschein nehmen, wo Ciqikou liegt, Chongqings kleine Altstadt.
Ihr Name geht auf kleine Porzellanmanufakturen zurück. Sie wurde vor mehr als tausend Jahren von Kaiser Zhenzong, der der Song-Dynastie angehörte, gegründet.
Das lebhafte Kleinod ist umgeben von den drei Bergen Ma’an, Jingbi und Fenghuang und liegt etwa 80 Meter über dem Jialing. Sein höchstes Gebäude ist der Anfang des 15. Jahrhunderts unter Kaiser Jiangwen (Ming-Dynastie) erbaute buddhistische Bao-Lun-Tempel. Das Holzbauwerk gilt der Legende nach als Wunder, weil es ohne die Verwendung von Nägeln konstruiert ist.
Die Altstadt wird großenteils von jungen Leuten und Touristen aus aller Regionen Chinas frequentiert, die ab neun Uhr morgens, wenn Ciqikou erwacht, staunend durch die engen Gassen flanieren, die von teils noch erhaltenem Fachwerk und Holzbauten aus der Zeit vor der japanischen Bombardierung Chongqings flankiert sind. Viele damals zerstörte Wohnhäuser sind nach Gründung der Volksrepublik (1.10.1949) aus Stein mit Holz im Stile der vergangenen Epoche wiedererrichtet worden.
Gut erhalten und teils akribisch restauriert ist auch die einzige ehemalige Privatschule Ciqikous und deren Innenhof. Sie ist heute ein Museum, das im Original mit dem Mobiliar, darunter die opulenten Baldachin-Betten für das lehrende Personal, Arbeits- und Schreibtische, Holzvertäfelungen, Schrifttafeln, Unterrichtsutensilien, Arbeitsgerät, einem Kessel zum Erhitzen von Badewasser, frühen Fotografien, Portraits und vielem mehr aufwartet.
Neben diesen und anderen historischen Vermächtnissen auf kleinstem Raume erwartet die Besucher Ciqikous ein breites Spektrum kulinarischer Köstlichkeiten und einfachen, indes schmackhaften Gerichten.
Garküchen bieten Suppen und scharf gewürzte Fleischspieße feil; an kaum einen Meter breiten Grillständen, die aus den Häusern lugen, werden pikante Tintenfischspieße für drei RMB (ca. 0,35€) pro Stück im Minutentakt gebruzzelt; vor den besten Bäckern wird in langen Reihen nach winzigen Keksen angestanden. Fast-Food-Restaurants US-amerikanischer Ketten findet man in Ciqikou nicht.
Den Bonbonherstellern kann man dabei zusehen, wie sie zu dritt mit mächtigen Holzhämmern
Getreidemasse, bestehend aus Sesam, Nüssen, Reis und Zucker, plattklopfen, die anschließend zu einem Fladen von einem Meter Durchmesser gewalzt und von geübten Händen solange längs und quer geschnitten wird, bis daraus drei bis vier Zentimeter lange Bonbonstreifen entstanden und bereit zum Verkauf sind.
Am Plattklopfen der Getreidemasse dürfen sich auch schon mal Touristen versuchen. Meist geben sie nach einer Minute erschöpft auf.
Vor Publikum arbeiten auch die traditionellen Nudelmacher, die vor ihren winzigen Restaurants stehen, Teig kneten und durch ein Sieb sickern lassen, bis daraus langen Fäden entstehen, die anschließend in den Kochtopf gegeben werden. Was in Deutschland von der Lebensmittelaufsicht gar nicht geschätzt würde.
Es duftet überall nach süßem Klebreis, nach wilder Minze, nach Blüten und Gewürzen. Alle paar Meter betört ein anderer Duft. Manches riecht mitunter stark, jedoch nie lange. Frisches Obst aus der Region gehört genauso zum Angebot wie Gemüse, Pilze, Trockenfleisch, Fisch aus dem Jialing und kleineren Flüssen aus der Provinz oder - eingeflogen - dem Südchinesischen Meer.
Auch den Kunsthandwerkern und Künstlern kann man bei der Arbeit zuschauen. Silberschmiede dengeln Teetassen und Untersetzer, Scherenschneider schnippeln Gesichtsprofile und Silhouetten von Ciqikou, Maler zaubern Aquarelle vom Jialing, den nebelbehangenen Bergen oder anderen Motiven.
Einige Künstler haben sich Ikonen der Moderne als Motive ausgesucht. Etwa Mick Jagger oder den verstorbenen Apple-Mitgründer Steve Jobs. Mit Graphit-, Bunt- und Kreidestiften huldigen sie ihrem iGod, der ihnen das auch aus der chinesischen Stadtbevölkerung nicht mehr wegzudenkende iPhone beschert hat, und karikieren ihn recht anschaulich.
Teeliebhaber dürften in Ciqikou ihre ultimative Erfüllung finden. In schmalen, gemütlichen Teehäusern, die mitunter nicht mehr als fünf Gäste gleichzeitig beherbergen können, werden die besten chinesischen Sorten vorgehalten und auf Wunsch kredenzt. Manche Sorten kosten bis zu tausend Euro pro halbes Kilo.
Kaufzwang gibt es nicht. Man kann sich ungezwungen setzen - zuweilen auf Hockern vor einem aus bis zu einer halben Tonne schweren Baumstümpfen, die virtuos zu Teetischen getischlert, gehobelt und gedrechselt wurden -und sich in entspannter Atmosphäre den Haustee, der von guter Qualität ist, genießen. Das damit verbundene Zeremoniell - der erste Aufguss wird weggeschüttet, der zweite gelangt in die Tasse; das aus Keramik gefertigte Kännchen wird mit Heißwasser übergossen - wirkt erhaben.
Dem Teebrüher kann man Fragen zur Prozedur und zu sämtlichen chinesischen Teesorten stellen. Er ist dafür dankbar und beantwortet sie gerne.
Und natürlich kann man sämtliche für den Teegenuss erhältlichen Utensilien - vom kompletten Service aus Porzellan, Keramik oder Silber, bis zu kleinen Seligmacher-Figuren - erstehen. Gelegentlich wird auch ein Aufguss einer der exklusiven Sorten für vergleichsweise kleines Geld geboten. Allerdings nur dann, wenn dem Teebrüher das Karma des Gastes zusagt.
Unten am Jialing-Ufer, an das man für fünf RMB Wegezoll über eine der steilen Treppe gelangt - oder ohne Wegezoll an einer anderen -, toben sich Kinder und Jugendliche an Spiel- und Hüpfburgen aus. Händler bieten allerlei bunten Tand und weitere Garküchen ihre Waren für kleine Münze an. Gegen Abend öffnen die dauerhaft vertäuten Wasserrestaurants. Innerhalb der Altstadt gibt es keine PKW. Selbst Fahrräder sieht man kaum.
Ciqikou ist seit dem Ende der Kulturrevolution überwiegend wieder im Besitz seiner Bewohner. Mietwohnungen gibt es kaum. Im Parterre befinden sich die Ladenlokale, oben wird auf teils engem Raum gewohnt. Mit dem Megastädtischen haben die Bewohner nur wenig zu tun. Sie leben in ihrem Viertel, das ihnen seit Generationen ein Auskommen sichert. Doch der Moderne sind sie nicht abgewandt. Dennoch gibt es keine Heizungen, wie nahezu überall in der Stadt.
Das Kleinod in der Megastadt lohnt sich, es zu besichtigen, zumal nur hier noch das alte Chongqing lebt. In den anderen Bezirken und Ortsteilen dieser Stadt findet man zwar auch noch Hinweise aufs Vergangene, man muss aber aufmerksam hinschauen, um zu entdecken, was da mal war. Entlang des Jialing und des Yangtze gibt es Zeugnisse davon. Sie zeigen sich in verfallenen, von Pflanzen teils stark angegriffenen Häusern.
Aus architektonischer Sicht dürfte dies durchaus interessant sein, entdeckten chinesische Baumeister doch schon vor Jahrzehnten den Raum unter Brücken und Felsvorsprüngen. Heute werden diese räumlichen Nischen nicht mehr genutzt und vorerst dem Verfall überlassen.
Anders wird mit dem historischen Erbe der von Peking mitregierten Stadt umgegangen. Es wird für die Nachwelt und den Tourismus gehegt und gepflegt. Ciqikou und andere touristische Spots bringen Geld in die Stadt, mitunter mehr als Joint Ventures aus Handel und Industrie. Den kulturell interessierten Besucher, sei er aus China oder irgendeinem Ausland, interessiert das Erlebnis. Wer daran verdient, ist im Prinzip unerheblich. Wer Chongqing City besucht, ganz gleich aus welchem Grund, sollte sich die Altstadt nicht entgehen lassen. Sie ist geeignet, China aus einem anderen Blickwinkel wahrzunehmen.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2013-01-27)
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