Die letzte Festung
90 Kilometer von Chongqings Zentrum entfernt liegt unweit der Stadt Hechuan Chinas gallisches Dorf Diaoyucheng. Ein Besuch lohnt sich, hat das Dorf doch Weltgeschichte geschrieben.
Von Uwe Goerlitz (2013-02-01)
Es dauert eine Weile, bis man aus Chongqing Urban Area über die Autobahn G 75 (G steht für China/Gònghéguó), die offiziell Lanhai Expressway heißt, herausgekommen ist und dann im Vorbeifahren links wie rechts Berge und Täler des Jinyan-Gebirges betrachten kann.
Die G 75 verläuft durch den flächengroßen Bezirk Beibei, überquert mehrfach den Jialing, führt durch eine Vielzahl von Tunneln, darunter den 4,2 Kilometer langen Beibei-Tunnel und den Xishanping (2,5 km), und ist auf 20 Kilometern mautpflichtig (beginnend bei Jingtancun, endend kurz vor Hechuan City).
Sie durchschneidet - als breite Nationalstraße (G 212) - die Großstadt Hechuan, die jüngst einen neuen, steril und fast menschenleer wirkenden Central Business Distrikt außerhalb des Zentrums erhielt.
Etwa acht Kilometer außerhalb des Zentrums von Hechuan, nach Überquerung des Fujian Jiang und des Jialing, gelangt man über die Diaoyucheng Avenue hoch auf die historische Festung Diaoyu Cheng (Fischer-Stadt), die auf dem gleichnamigen Berg liegt (Fischer-Berg) und offiziell zu Hechuans Ort Heyang gehört.
60 RMB (ca. 7,50 €) kostet der Eintritt (Stand: Januar 2013) pro Person, Führer bzw. Führerin inbegriffen. Auf deren Dienste sollte man keinesfalls verzichten. Sie sind bis ins geschichtliche Detail kompetent, beantworten sämtliche Fragen zur Sache und führen logisch durch das Areal. Es allein zu erkunden, brächte keine Vorteile.
Das zweieinhalb Quadratkilometer umfassende Areal, 391 Meter über Normalnull, umflossen vom Jialing, Qujiang und Fujian, begrünt neben anderen mit Banyan-Feigenbäumen und deren Wirtsbäumen, wurde im Jahr 1242 unter der Chunyou-Regierung, die der Südlichen Song-Dynastie unterstand, gegründet und ging bald in Chinas und Teile der Weltgeschichte ein.
Genghis Kahn (zu Deutsch: Weltherrscher), der mongolische Einiger und Imperator, hatte während seines kriegerischen Wirkens (1206-27) bereits einen Teil Chinas unter seine Kontrolle gebracht. So einige Gebiete der Westlichen Xia-Dynastie.
Mit Hilfe der Südlichen Song-Dynastie hatte er auch Gebiete der Jin-Dynastie besetzt, deren Reich im Nordosten Chinas lag. Nachdem Genghis 1227 gestorben war, setzte sein Sohn Ögedei Khan die Eroberungsfeldzüge fort und unterwarf schließlich die Xia und Jin.
Nun machten sich die Mongolen unter Wokuotai Khan daran, die mächtige Südliche Song-Dynastie zu bekriegen, deren Reich sich über die zentralen Tiefebenen, den Südwesten und Südchina erstreckte. Sie fielen 1235 unter General Kuoduan Hequ bei Chengdu im Westen Sichuans ein und unterwarfen es 1236. Als nächste sollte die strategisch wichtige Stadt Chongqing eingenommen werden, während andere mongolische Truppen im Osten Chinas unterwegs waren und wichtige Städte unterwarfen, etwa Hangzhou.
Chongqings Gouverneur Yu Jie griff den weitsichtigen Vorschlag seiner Militärberater Ran Pu und Ran Jin auf, die mongolischen Truppen weit vor der Stadt aufzuhalten, indem man auf dem Fischer-Berg von Diaoyucheng eine Festung errichtete. Nachdem sie 1242 fertiggestellt, bevorratet und mit Soldaten ausgestattet war, wartete man auf die Mongolen.
1243 kamen sie und begannen Diaoyucheng, deren Bewohner den Ba und Pu angehörten, zu belagern. Für die Mongolen sollte sich der Ort, der von den Flussufern über 200 Meter hinaufragende Steilklippen aufweist, fortan als gallisches Dorf erweisen.
Nachdem sie bereits acht Jahre lang den Mongolen widerstanden hatten, intensivierten diese ihre Angriffe in Sichuan ab 1251, dem Jahr, in dem Möngke Khan, ein Enkel von Genghis, zum Führer der Mongolen aufstieg.
Unter den Generälen Wang Jian und Zhang Yu wehrten sich die Chinesen vom Fischer-Berg aus erfolgreich, wobei sie nicht nur ihre Bögen einsetzten, sondern auch Kanonen. Unzählige mongolische Schiffe versanken mit ihren Soldaten im Jialing und Qujiang. Als einschneidend gilt die Schlacht vom Frühjahr 1259, als Möngke Khan zu einem weiteren Versuch, Sichuan- und damit auch Diaoyucheng - komplett einzunehmen, mit 40.000 Truppen anrückte.
Große Teile Sichuans konnte er unterwerfen, indes weder die Fischer-Stadt noch Chongqing. Er sandte einen Emissär in das gallische Dorf, den unterworfenen Song Jin Guobao, der Verhandlungen zur Kapitulation des Dorfes aufnehmen sollte. Diaoyuchengs militärischer Führer Wang Jian lehnte ab. Er nahm Guobao gefangen und ließ ihn hinrichten.
Möngke Khan war darüber so erbost, dass er Anfang Februar 1259 Truppen in Bewegung setzte, die über den Qujiang fuhren und knapp zehn Kilometer von Diaoyucheng entfernt auf dem Shizi-Berg Stellung bezogen. Er wies seinen General Yang Dayuan an, die Zivilbevölkerung von Hezhou gefangenzunehmen, um die chinesischen Gallier zur Kapitulation zu zwingen. Gleichzeitig sollten Angriffe vom Fluss aus auf die Fischer-Stadt geführt werden.
Die Mongolen bauten eine schwimmfähige Brücke über den Qujiang, die ihnen die Anlandung von Truppen ermöglichte. So nahmen sie umliegende Ortschaften ein, nicht aber Diaoyucheng. Den Widerständlern kam - alljährlich - auch die Witterung zu Gute. Der Nebel über den Flüssen bedeutete für die Angreifer, dass sie kaum sahen, wohin sie zielten.
Im Juni gelang es einzelnen Truppen, die Mauern zu überwinden, doch innerhalb der Festung gelang es, die Eindringlinge zu besiegen. Am 21. Juli 1259 erklommen Möngkes Truppen den Festungsberg und wurden von Wang Jian unter Kanonenfeuer genommen und zurückgedrängt. Der Legende nach ließ Wang Jian anschließend zwei mächtige Fische fangen, die er für die Mongolen sichtbar an die Festungsmauer hängen ließ.
Dann habe er "mehrere hundert Kuchen" auf den Boden geworfen und Möngke einen Brief zukommen lassen, in dem er ihn fragte und in Aussicht stellte: "Sind Ihre Truppen in der Lage, derart köstliche Kuchen zu backen? Sie können diese Stadt auch in zehn Jahren nicht einnehmen!"¹
Möngke Khan starb im August 1259. Wie, ist nicht genau bekannt. Chinesische Quellen weisen aus, er sei in Diaoyucheng so schwer verwundet worden, dass er an seinen Verletzungen starb. Anderen, vor allem englischsprachigen und persischen Quellen ist zu entnehmen, er sei an Ruhr oder Cholera gestorben.
Auf dem Sterbebett soll er konstatiert haben: "Meine einzige Wunde ist diese Stadt. Falls mein Nachfolger sie einnehmen kann, muss er alle sich darin befindenden Leute abschlachten."² Der Mongolen-Prinz Moge und Minister Shi Tianze hatten die Aufgabe, Möngkes Leiche in die Heimat zu verbringen.
Möngkes Tod schlug zunächst Wellen bei den Mongolen, die seinerzeit schon bis nach Europa, Afghanistan, Nord-Indien, der Türkei und Persien vorgedrungen waren. Für die Südliche Song-Dynastie, China und die Welt sollte sich der Widerstand gegen die Mongolen, der nur auf Grund der geographischen Lage Diaoyuchengs so möglich gewesen war, nicht auszahlen. Auf den Verblichenen folgten weitere Imperatoren, so Tacha’er und Kublai Khan.
36 Jahre lang, in denen sich auch eine Verwaltung und Gerichtsbarkeit im gallischen Dorf etablierte, hielten Bewohner und Soldaten der Song-Armee der Belagerung um Diaoyucheng und den mehr als 200 Angriffen stand.
Die offiziellen Versorgungs- und Nachschubwege waren ihnen jahrelang durch die Belagerung zwar verschlossen gewesen, doch die Widerständler erwiesen sich als einfallsreich und hatten die Unterstützung von Partisanen.
So manche Pfiffigkeit der Widerständler machte den Mongolen zu schaffen, etwa das Einbringen von Ankerlöchern in die flussseitigen Festungsmauern, in die die Verteidiger bei Bedarf Holz- oder Bambusstangen einnockten und auf diese Weise schnell eine Treppe herrichten und wieder abbauen konnten. Nachts oder im Nebel der Flüsse schmuggelten sie Lebensmittel, Nutztiere, Schießpulver, Werkzeuge und Erze in die Festung.
Auf den höchsten Plateaus des Berges meißelten sie Mulden und Löcher in den Kalksandstein, in denen sie das Schießpulver anmischten und Bronze für die Kanonen gossen. Sie errichteten Unterkünfte und Feuerstellen zum Kochen der Mahlzeiten. Sukzessive bauten sie die Festung aus, brachten Schieß- und Kanonenscharten in und an die zu den Flüssen gerichteten Mauern ein, sowie Zinnen für die Bogenschützen. 1279 war mit der Kapitulation von General Wang Li Schluss mit dem Widerstand.
Diese Heldengeschichte gehört in China zum historischen Grundwissen. Der Ort zählt zum nationalen Kulturerbe und erhielt höchste Weihen, nachdem Chinas Premier Li Peng und Industrieminister Zou Jiahua ihn 1987 besichtigt hatten. Dadurch flossen vermehrt Gelder aus Beijing, um den Ort als kulturelles Denkmal in vorzeigbarem Zustand zu erhalten.
So sind viele massige Gedenk- und Schrifttafeln aufgestellt, die auf Chinesisch und Englisch erklären, was wann wo und mit wem vor sich ging. Ahnentafeln, teils hunderte von Jahren alt und durch Witterung - oder Beschädigung durch die Mongolen - mitgenommen, sind im Original erhalten und aus Denkmalpflegründen nicht restauriert worden. Tempelstätten schon.
In den zum Teil vor gut 700 Jahren zur Trinkwasserversorgung terrassenförmig angelegten Teichen schwimmen Goldfische und ihre Albino-Verwandten. Die historischen Wohn-, Arbeits- und Offizialgebäude sind auf Vordermann gebracht, ohne ihre Wirkung auf den Betrachter einzubüßen. Der Gerichtssaal etwa, in dem der Richtertisch im Original steht, wartet mit beschwerterten Wachen in Rüstung und mit einer Kniebank auf. Wie zu jener Zeit überall auf der Welt, mussten Delinquenten schon für kleine Vergehen mit der Todesstrafe rechnen. Den Richter anzublicken, bedeutete durchaus Kopf ab.
Unweit des Gerichtshauses befindet sich das kleine Haus mit Gefängniszellen. Auch dort haben sich die Restauratoren geschichtsgetreu viel Mühe gemacht. Inhaftierte (als Figuren), die auf die Vorführung zum Richter warteten, sind angekettet. Die Zellenausstattung entspricht den Originalen. Da zeigt sich dem Betrachter, zumindest dem europäischen, dass es damals hart zuging, wohlwissend, dass heutzutage in manchen Ländern noch ähnliche Zustände wie im China des 13. Jahrhunderts herrschen.
Gut zwei Stunden dauert die Führung durch das imposante Areal. An etlichen Stellen kommt man ins Staunen. Etwa an einem der Aussichtspunkte hoch oben auf dem Plateau, von dem man auf den Jialing blicken kann - und ihn auch sieht, wenn kein Nebel vorherrscht. In der chinesischen Provinz genießt der Fluss eine ähnliche Beachtung wie der Yangtze (Chang Jiang), der Lange Fluss.
Wie er, weist er in der Region an den Ufern lediglich sanftes Plätschern auf. In seiner Mitte jedoch ist die enorme Strömungsgeschwindigkeit deutlich sichtbar. Den Jialing zu durchschwimmen ist - wie beim Yangtze in Chongqing - generell und auch in Diaoyucheng mitunter ein tödliches Unterfangen. Es sei bereits schwierig, darauf mit einem motorlosen Boot klarzukommen, sagen Einheimische.
Auf dem Areal sind neben den historischen militärischen Anlagen auch kulturelle zu besichtigen. So der Schlafende Buddha unweit des Huguo-Tempels, der noch aus der Tang-Dynastie stammt. Er ist in den Kalksandstein gemeißelt und elf Meter lang. Allein sein Kopf weist eine Länge von 2,20 Meter auf. Buddhisten nennen ihn Heilige Exposition von Sakyamuni und verneigen sich vor ihm. Nicht-Buddhisten oder unkundige Touristen machen flugs ein Foto und rauschen an ihm meist schnell vorbei.
Mitunter ist das Vorbeirauschen allerdings den Guides geschuldet. Da sollte man sich nicht scheuen, Stopp zu sagen, um ein wenig länger am Schlafenden Buddha - oder anderen subjektiv interessanten Punkten - zu verweilen. So historisch bewandert die Guides auch sind, sie sind darauf aus, ihr Programm innerhalb eines definierten Zeitraums abzuarbeiten. Fairerweise muss gesagt werden, dass sie auf jede Verzögerung, in die sie durch Fragen einbezogen sind, professionell und freundlich reagieren.
Und wenn es ihnen gefällt, gibt es über die Führung hinaus auch noch Besonderes, zumal dann, wenn hohe buddhistische Feiertage anstehen. Wie der 19. Januar. An diesem Tag kann es geschehen, dass man von seinem Guide, vorausgesetzt, man ist zur Mittagszeit unterwegs, zum Volksessen gebracht wird.
Das findet abseits des touristischen Areals statt und lässt einen Blick auf die erbärmlichen, verfallenen Unterkünfte der Möche zu. Über kleine Wege, an deren Zugängen Verbotsschilder für Touristen platziert sind, gelangt man zu den Mönchen und kann dabei einen Blick auf die verwahrlosten Unterkünfte vergangener Zeiten werfen. Die haben für die Mönche nach wie vor Bestand.
Wenn sie zum Essen einladen, gilt es auch, die Bewohner aus der Region zu beköstigen. Und wenn ein Guide Touristen anschleppt, werden diese genauso willkommen geheißen und behandelt wie Einheimische. Extrawürste gibt es nicht. Es gibt für alle das gleiche Essen, bis jeder satt ist. Am 19. Januar 2013 gab es eine stäbchengerechte Suppe aus Reis, Nüssen, Hülsenfrüchten und Gewürzen.
Vor dem Eingang in den Speisesaal steht eine Geber-Box, in die man eine Spende vor oder nach dem Essen gibt. Es ist kein Muss, doch jeder steckt eine Note als Obolus hinein. Selbst die Ärmsten, die an dieser Mönchsspeisung seit Jahren teilnehmen. Sie ist ihnen heilig.
Für Ausländer werden in begrenztem Maße Gabel und Löffel vorgehalten, allerdings schickt es sich nicht, davon Gebrauch zu machen. Das Wichtigste ist jedoch, ganz gleich, ob es einem schmeckt oder nicht, seine Schale zu leeren, also alles aufzuessen. Das wird geschätzt und soll Glück bringen. In Deutschland kennt man das unter der Weisheit: Wenn du deinen Teller leerst, scheint Morgen die Sonne.
¹ Zitiert aus: Fishing Town Of Hechuan City, herausgegeben vom örtlichen Tourismusverband. 96 Seiten, zweisprachig (Chinesisch/Englisch). ISBN 9787889050194. ISRC: CN 7080600000/V J4.
² ebd.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2013-02-01)
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