Gelebte Nostalgie
Das legändere BMW-Gespann R 71, ein Kriegskrad, das die Münchner zwischen 1938 und 1941 bauten, lebt auch heute noch in China weiter.
Hao Feng (2013-02-08)
Mit Legenden, gerade mit jenen, die aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen, ist immer mit Bedacht umzugehen. Selbst dann, wenn es nicht um historische Einordnung des Politischen geht, sondern lediglich um Technologie. Raketen- und deren Antriebstechnologie zum Beispiel. Davon wird hier nicht weiter die Rede sein.
Denn es geht auch einfacher, doch nicht minder bedeutungsvoll. Die Rede ist vom wichtigsten Krad und Kradgespann des Zweiten Weltkriegs, das von den Bayrischen Motorenwerken entwickelt und von 1938 bis 1941 knapp 3.500 Mal verkauft wurde: R 71.
Zuerst kopierte die sowjetrussische Armee die R 71, nannte sie Dnepr und Ural M-72, setzte die Gespanne im Zweiten Weltkrieg ein und produzierte sie anschließend noch jahrzehntelang. Bis Ende 2000 waren über zwei Millionen Stück hergestellt worden.
Das Vierganggetriebe mit Kardanwelle und der robuste 2-Zylinder-Viertakt-Boxermoter, Hubraum 746 ccm, waren prädestiniert für lange Lebensdauer und unwirtliche Einsätze. Wer sich auf so einen Bock setzte, kam, wenn er nicht heruntergeschossen wurde oder in was für einem Zustand auch immer von der Straße abkam, stets an.
Um 1950 kamen die M-72er nach China und wurden dort von der im Laufe der Jahrzehnte mehrfach umfirmierten Firma Guo Ying Gan Jiang Ji Xie Chang¹ für die chinesische Armee zu tausenden nachgebaut und als Chang Jiang 750 (CJ 750) - gemäß der Hochachtung vor Chinas Langem Fluss, Yangtzekiang (chin.: Chang Jiang) - bezeichnet. 1997 wurde die Produktion eingestellt.
Bereits in den frühen 1990er Jahren begann das kleine Unternehmen Zhang’s Motor Works (ZMW; Beijing Sidecars) sich darauf zu spezialisieren, das geradezu unkaputtbare Motorrad für zivile Kundschaft aufzubauen.
Im Wesentlichen stammten - und stammen - die Einzel-Krads und Gespanne aus Militärbeständen. Anders als bei der R 71 ist der Seitenwagen ohne Selbstantrieb oder -lenkung. Darauf hatten schon die sowjetischen Plagiatoren verzichtet.
ZMW ist nicht die einzige Firma, die in der chinesischen Hauptstadt am Aufbau des Krads mit Beiwagen fest- und Ersatzteile vorhält, aber eine der erfahrensten und bekanntesten. Sie liefert weltweit und packt sogar noch so manches Ersatzteil kostenlos mit in die Versandkiste.
Ursprünglich besaß die R 71, wie auch ihre sowjetischen und chinesischen Nachbauten, eine 6-Volt-Gleichstromversorgung. ZMW beispielsweise stattet sie auch mit einer wartungsfreien 12-Volt-Batterie sowie entsprechender Lichtmaschine aus und passt die elektrischen Bau- und Nutzteile für die bis zu 32 PS starken Gespanne daran an.
Zum Restaurations- und Modernisierungsumfang gehört eine Zwölffachlackierung von Rahmen (wahlweise auch pulverbeschichtet), Vordergabelschäften (wahlweise auch verchromt), Tank, Schutzblechen, Seitenwagen, Scheinwerfer- und Blinkergehäusen. Kradsättel und der Sitz im Seitenwagen sind mit edlem Leder überzogen. Verchromte Sattelstoßfänger für die Sozia, moderne Federbeine, klassische, neue Bereifung, wahlweise eine Windschutzscheibe am Seitenwagen und jede Menge Liebe zum Detail lassen das Herz von Motorradfans heftig pochen.
Es gilt als hip, sich im Gespann durch die engen Gassen des alten Beijings und der immer mehr von Stadtplanern und Bauherren verdrängten Hutongs fahren zu lassen, zumal es mit dem Auto kaum ginge und mit dem Fahrrad nur halb so spannend wäre, oder zur Großen Mauer nach Badaling im Nordwesten der Hauptstadt.
ZMW, früher im alten Beijing ansässig, inzwischen wegen des Prestige-Bau-Booms längst verdrängt, aber immer noch im Innenstadtbereich, bietet solche Touren - und weitere - an, die natürlich an Sonnen- und smogfreien Tagen am schönsten sind. Ein Mundschutz kann dennoch nie schaden.
Genauso angesagt wie die Touren ist die CJ 750 bei ihren Besitzern, die sie hegen und pflegen wie das bei Kradliebhabern üblich ist. Ein vollrestauriertes Gespann ist jedoch kaum unter 20.000 Euro zu haben. Bei Big Bill’s Bikes, einem der wesentlichen Konkurrenten von ZMW und ähnlich bekannt, kostet ein solches 35.000 US-Dollar (gegenwärtig ca. 26.000 €). Für den Export werden Ersatzteile (Emergency Kit) im Wert von 400 US-Dollar beigelegt.
Wer die CJ 750 komplett nach seinen Wünschen restauriert haben möchte, also customized, muss tiefer in die Tasche greifen. Viele, die das können, tun das. Wie hoch das Ansehen des Bikes und des Gespanns ist, lässt sich auch daran erkennen, dass einer der berühmtesten Künstler des Landes, Yang Yang, dessen Werke schon mal zwei Millionen Dollar kosten, sich an die Gestaltung machte. 2010 erzielte ein von ihm kunstvoll bemaltes, vollrestauriertes Gespann während einer Versteigerung 1,5 Millionen Renminbi (ca. 187.000 €).
Da erscheinen die Kosten fürs Shipping vergleichsweise gering. Big Bill’s Bikes bietet nach gegenwärtigem Stand die Verschiffung eines Gespanns (5 m³) nach Hamburg bereits ab 600 € an, nach München kostet es rund 1.000 € (weitere Standard-Shipping-Orte: Bremen, Berlin, Frankfurt/Main).
China ist längst noch kein Biker-Land wie beispielsweise die USA, Deutschland, Frankreich oder die Niederlande, aber unter Künstlern und anderen Individualisten gelten sowohl moderne als auch nostalgische Motorräder zunehmend zur Mobilitätsphilosophie. Bei Neureichen allerdings eher zum Hobby oder Statussymbol.
¹ Es folgte: Guo Ying Chang Jiang Ji Xie Chang. Dann die Weitergabe an das Luftfahrtunternehmen Guo Ying Hong Du Ji Xie Chang, das die Produktion der CJ 750 abstoß und an Nan Chang Fei Ji Zhi Zao Gong Si weitergab. Zuletzt landete die Marke bei Jiang Xi Hong Du Hang Kong Ye Ji Tuan.
© Hao Feng
© Geowis (2013-02-08)
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