Kratzer am Mythos
Ulrike Robeck nimmt in Egon Erwin Kisch in Essen zwei seiner frühen Reportagen und dazugehöriger Fotografien unter die Lupe.
Von Hubertus Molln (2013-02-12)
Gäbe es den Egon-Erwin-Kisch-Preis noch, der 1977 vom ehemaligen, 1996 verstorbenen Chefredakteur der Illustrierten stern ins Leben gerufen worden war und 2005 in Henri-Nannen-Preis umgewidmet wurde, stünde die Reportage, laut Nannen die "Königsdisziplin", heute vielleicht auf einem breiteren Fundament als dies angesichts der inzwischen nahezu uniformen Berichterstattung und redaktionellem Einerlei der Fall ist.
Kisch, der rasende Reporter¹, war Soldat im Ersten Weltkrieg und schloss sich nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie 1925 dem Kommunismus an. Sein Faible fürs Literarische wirkte später in sein journalistisches Schaffen hinein. Lenka Reinerová, die ihn 1935 im Prager Café Metro kennen gelernte hatte, zitiert ihn Jahrzehnte später in einem Interview: "Du kannst eine Geschichte nicht nur so hinlegen, du kannst nicht nur beschreiben, nur schildern, es muss gestaltet sein."²
Kisch, Lenkerová und viele andere trieb es wegen der europäischen Expansion der Nazis und der Besetzung Prags (März 1939) schließlich ins Exil nach Mexiko City, wo er auf weitere Emigranten und auf die dortige sozialistisch-kommunistische Bohème traf.
Jahre zuvor, ab Ende 1922, als er noch in Berlin gelebt hatte, war der Mann, der zwischen 1919 und 1932 weit herumgekommen war (Frankreich, Algerien, Tunesien, Sowjetunion, USA, China) und diesbezüglich Reportagen ablieferte, im Ruhrgebiet, speziell in Essen, gewesen und wurde Zeuge der französisch-belgischen Besatzung (Januar 1923).
Hier verfasste er zwei Reportagen - Das Nest der Kanonenkönige und Generalversammlung der Schwerindustrie -, die Ulrike Robeck im vorliegenden Buch einer genaueren Betrachtung unterzieht. Beide Reportagen sind Bestandteil des Buches, was es dem Leser erleichtert, die Schlussfolgerungen der Autorin einzuordnen.
Robeck untersucht etwa die Ausdrucksweise, die Kisch in diesen Reportagen verwendet. Sie überprüft im Weiteren, ob das, was in den Texten als Tatsachen wiedergegeben wird, beispielsweise Merkmale der Stadt Essen (Gebäude, Denkmäler), mit der damaligen Wirklichkeit übereinstimmt. Sie analysiert Kischs "Darstellungslinie" (Robeck), die intensiv auch seine fotografischen Zeugnisse umfasst. In allen Untersuchungsbereichen kommt die Autoren zu höchst interessaten, durchaus diskutablen Ergebnissen.
Sie attestiert der Reporter-Legende nicht nur "Unschärfen" bei der Beschreibung seiner Reportage-Gegenstände, sondern nach Lesart auch mangelnden Recherchesinn und daraus resultierende fehlerhafte oder falsche Wiedergabe von den realen Verhältnissen in der Kruppstadt Essen. Übertragen auf Kischs vorherige und nachfolgende Reportagen ließe sich demzufolge annehmen, dass er es generell nicht immer genau genommen hätte.
Ruft man sich allerdings ins Gedächtnis, dass Egon Kisch laut obigem Zitat von Reinerová in seinen Reportagen auch Wert aufs Gestalterische legte - womit mitnichten das Layout, sondern die textuelle, gar phantasievolle Ausschmückung dessen gemeint sein dürfte -, könnte man subsumiert Milde walten lassen. Andererseits könnte man auch geneigt sein, Kisch posthum rigoros als partiellen Märchenerzähler einzuschätzen.
Auf jeden Fall weist Robeck nach, dass Kisch für die beiden Reportagen unsauber gearbeitet hatte. Die Frage, weshalb er das tat, kann kaum beantwortet werden. Unsauberes oder mangelhaftet Recherchieren gilt heute zum Glück als Todsünde unter Journalisten (und Wissenschaftlern).
Die Autorin versäumt nicht, Kisch in seiner damaligen Zeit zu betrachten oder seine Sozialisation zu berücksichtigen. Zwar war Kisch damals noch nicht Mitglied in der Kommunistischen Partei Deutschlands, aber bereits erklärter Gegner des Kapitalismus und der Ausbeutung der Arbeiter. Das schlägt sich in seiner abgedruckten Sprache nieder.
Heute ist das kaum anders. Die Sprache des Klassenkampfes hat jeweils eine eigene, jederzeit zuzuordnende Terminologie, was letztlich gut ist, und besser als die bis zum Angsthasentum verkommene Ausdrucksweise angeblich neutraler Berichterstattung. Um die reine Berichterstattung aber ging es Kisch nie.
Robeck zieht trotz ihrer vielen hervorragend herausgearbeiteten Schwachstellen in beiden Reportagen ein versöhnliches Fazit hinsichtlich der sie begleitenden bzw. unterstützenden Fotografien des Protagonisten. "Ohne etwas »Künstliches« »aufzubauen«, gelingt ihm eine ›Fotografie‹ der »Verdinglichung menschlicher Beziehungen« (Brecht) … (…). Es ist also tatsächlich Kunst möglich."
Im Hinblick auf die Journalismusforschung im Allgemeinen und auf die Kisch-Forschung im Besonderen ist Robecks Buch, das mit zahlreichen historischen Fotos des berühmten Reporteurs angereichert ist, ein wichtiger Beitrag, zumal im Kern daraus hervorgeht, dass Tatsachen subjektiver Bewertung unterliegen können.
¹ Der Zusatz geht auf Kischs 1925 erschienenem Reportage-Band Der rasende Reporter zurück.
² Interview in Der Spiegel, Nr. 40/2002 (29.09.2002).
© Hubertus Molln
© GeoWis (2013-02-12)
Ulrike Robeck: Egon Erwin Kisch in Essen. Eine ‚Fotografie‘ der Kruppwerke und des RWE . Tradecover (Hochglanz), 120 S., ISBN 978-3-8375-0548-1, Klartext Verlag, Essen, 2011.