Bewusstseinsbildung
Mit opulenten und qualitativ bemerkenswerten Bildbänden kennt sich der Kölner Taschen-Verlag aus. Das hier besprochene Werk erschien bereits 2008, ist aber erfreulicherweise noch im Programm.
Von Uwe Goerlitz (2013-03-06)
Plakate können eine enorme Wirkung auf das Bewusstsein haben. Das war schon den Pionieren der modernen Plakatkunst bekannt, zu denen die Franzosen Jules Chéret (1836-1932) und Henri de Toulouse-Lautrec (1864-1901) zählen. Sie bedienten sich vorwiegend der Lithographie, dem ältesten Flachdruckverfahren, und produzierten weitgehend Veranstaltungs- und Werbeplakate.
Schnell erkannten politische Gruppierungen und Parteien die Vorteile von Plakaten und verwenden sie seitdem für Proklamationen und politische Werbung (Propaganda). Je größer und verbreiteter, desto wirkungsvoller. Wer durch die USA oder Mexiko fährt, kann an Ortseingängen gigantische Plakate bewundern oder als abstoßend empfinden, für die extra Betonmasten nebst -rahmungen konstruiert wurden.
Heutzutage werden Großplakate zwar auch noch gedruckt, je nach Abmessung in mehrteiligen Affichen mittels Sieb- oder Offsetdruck, vielfach jedoch projiziert. Hotels und Bürogebäude generieren für die Bereitstellung dazu notwendiger Flächen zusätzliche Erträge.
Vor sechzig Jahren konnte davon zumindest in China noch keine Rede sein. Dort - wie in allen sozialistischen und kommunistischen Ländern - fristete Produktwerbung mit Hilfe von Plakaten eher ein Nischendasein, während gesellschaftliche und politische Verkündungen (in Farbe) vorherrschten. Besonders nach Gründung der Volksrepublik China (1.10.1949).
Im vorliegenden Werk, das überwiegend Propagandaplakate aus der Sammlung des in Hong Kong ansässigen Fotografen Michael Wolf präsentiert und dreisprachig ist (Englisch, Deutsch, Französisch), nennt Stefan R. Landsberger in seinem Beitrag Aufstieg und Niedergang des chinesischen Propagandaplakats einen von mehreren Gründen, weshalb chinesischen Propagandaplakaten enorme Bedeutung im Reich der Mitte beigemessen worden war.
"Nach der Gründung der Volksrepublik 1949 blieb die Propagandakunst eines der wichtigsten Mittel, um Vorbilder für richtiges Verhalten zu liefern. (…) In einem Land mit einer hohen Analphabetenquote (…) funktionierte die Methode, abstrakte Vorstellungen zu visualisieren und auf diese Weise das Volk zu erziehen, besonders gut."
Für das Nation Building, und die Bewusstseinsbildung im Volk, waren Plakate daher ausgesprochen hilfreich. "Den meisten Menschen gefielen die Gestaltung und die Motive, und den darunter gedruckten Parolen schenkten sie nicht viel Aufmerksamkeit. So konnte die politische Botschaft (…) auf nahezu unbewusste Weise weitergegeben werden", so Sinologe Landsberger weiter, dessen umfangreicher Essay eine ausgezeichnete Analyse zum Thema darstellt.
Als Zeitzeugin für die Bewusstseinsbildung schreibt die seit 1989 in den USA lebende chinesische Schriftstellerin Anchee Min in ihrem Essay Das Mädchen auf dem Poster: "Als Kind wollte ich das Mädchen auf dem Poster sein. Tag für Tag kleidete ich mich wie dieses Mädchen (…), trug Zöpfe wie sie (sic!). Es gefiel mir, dass sie von den Märtyrern der Revolution umgeben war, zu deren Verehrung man mich seit dem Kindergarten angehalten hatte."
Wie Min, die sich einen Namen mit ihrer Autobiographie Red Azalea (1994) und Romanen, darunter Becoming Madame Mao (2001), The Last Empress (2007), Pearl of China (2010), gemacht hat, reflektiert der in den Niederlanden lebende chinesische Dichter und Literat Duo Duo in seinem Beitrag Beim Betrachten der Propagandaplakate deren Wirkung auf ihn.
"Seit meiner Geburt im Jahr 1951 war ich einer visuellen Didaktik ausgeliefert: von Kinder-Bilderbüchern über Schulbücher (…) bis hin zu den großen Mengen anderer Bilder und Propagandaplakaten. Sie (…) waren Wegweiser für mein Leben."
Die Autoren nehmen eine durchaus kritische Haltung zu den Plakaten und deren Wirkung ein, allen voran Min und Duo. Aus ihren Essays lässt sich Enttäuschung herauslesen, fast Vorwürfe über die in Kindheit und Jugend suggerierten und implementierten Verheißungen, die später, zumindest bei subjektiver Betrachtung, der Realität nicht gerecht wurden.
Ein Phänomen, das man auch im Westen kannte und kennt. Als Kind glaubte man hierzulande, dass das eine Waschpulver weißer oder reiner als das andere wasche, Kinder-Schokolade gesund sei, Haribo Kinder froh mache, Maoam das ultimative Kau-Bonbon sei oder ein Tiger in den Tank gepackt werden könne. Mütter und Väter glaubten es ja auch. Später stellt man fest, dass alles Lüge war.
Duos im übertragenen Sinne zu verstehende Betrachtungsdistanz drückt indes auch Milde aus, wenn er schreibt: "Meines Erachtens hat es unter dem Mantel des politischen Propagandaplakats stets eine Unterströmung gegeben. (...) Sie basiert auf den volkstümlichen Mythen und Sagen und der Vorstellung, Geschichte, Menschen und Natur zu vereinen. Sie ist der Ursprung der Seele einer Nation."
Auch Anchee Min findet versöhnliche Worte. "Die Plakate zeigen die Vorstellungswelt einer ganzen Generation und spiegeln einen wichtigen Abschnitt chinesischer Geschichte wider, der oft falsch dargestellt wird. Ein Bild ist mehr wert als tausend Worte, deshalb lasst die Bilder sprechen!"
Das tun sie. Mehr als 300 Plakate sind in diesem hochformatigen (225 x 340 mm), in China gedruckten Werk abgebildet, viele davon ganzseitig im Anschnitt, und dreisprachig mit Bildunterschriften und -daten versehen. Unterteilt in sechzehn Kapitel - mit einer Jahrestafel am Schluss, die von 1900 bis 2008 reicht -, bietet es neben den propagandistischen Aussagen gleichwohl eine Entwicklungsgeschichte der Plakatmalerei und -kunst in China seit 1949.
Die ist teils von außergewöhnlicher Qualität, die sich nicht so sehr in den Variationen der gemalten Gesichter zeigt, umso mehr allerdings in den Hintergründen, die häufig Aquarell-Charakter aufweisen, und in den Details, die die Ausdruckskraft der Symbolik verstärken.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2013-03-06)
Benedikt Taschen (Hg.): Chinese Propaganda Posters. From the Collection of Michael Wolf. With Essays by Anchee Min, Duo Duo and Stefan R. Landsberger. Tradecover, Hochformat, 240 S., ISBN 978-3-8365-0316-7. Taschen, Köln, 2008.