Zeitreise durch den Pott
Mit seinem Fotoband Mein Revier - Ein Vierteljahrhundert im Bild ist Manfred Vollmer ein eindrucksvolles Stück Heimatkunde gelungen.
Von Jonas Littfers (2013-05-24)
"Manfred Vollmers Bilder sind Botschafter eines Reviers, das so und ähnlich in vielen Köpfen existiert", schreibt Sigrid Schneider, Leiterin des Essener Fotorachivs Ruhr Museum, in ihrem Vorwort zum vorliegenden Buch. Schaut man sich die zwischen 1965 und 1989 aufgenommenen Fotos an, die der 1944 geborene Fotograf ausgewählt hat, ahnt man, was sie damit ausdrücken will.
Zum Einen die in der Erinnerung haftenden Bilder der während dieser Zeit im Ruhrgebiet aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen und die der damals dort lebenden Erwachsenen; zum Anderen die von Besuchern mitgenommenen Eindrücke. Wer zur Arbeiterschaft und zum Kleinbürgertum auf Besuch kam, dem blieben die exquisiten Ortsteile mit ihren Gründerzeitvillen, etwa in Essen-Bredeney oder Dortmund-Gartenstadt meist verborgen.
Vollmers Revier berücksichtigt Derartiges in diesem Band nicht. Er konzentriert sich auf die Darstellung der Arbeiterschaft, einfacher Leute und ihrer Milieus, auf die Verbringung der Freizeit von Jugendlichen, auf spielende Kinder, Demonstrationen, Rituale, das alltägliche Idyll, die allgemeine Daseinsweise, den Stahl, manche historische Begebenheit.
So kommen der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt während der DGB-Veranstaltung am 1. Mai 1978 - streng bewacht - in der Fußgängerzone Essens ebenso vor wie der klassische Taubenzüchter im Rentenalter, Schnappschüsse aus dem Bildungsalltag, von Kleingartenfesten, dem Bochumer Kemnade-Festival.
Unterteilt in gut dreißig Themenbereiche nehmen die 88 Fotos den Betrachter mit auf eine Zeitreise, während der das Spielen auf der Straße mit einfachem Puppenwagen (1965) vor renovierungsbedürftigen Häuserfassaden genauso zum Festgehaltenen gehört wie die Bestellung von Gemüsegärten (1978), das Leben in Gastarbeiterunterkünften (1971), das Kohleschleppen im Altbau (1980), Jungs mit Rockabilly-Frisuren (1985), die Arbeit unter Tage oder beim Stahlkochen.
Für Ruhrgebietler, die im Allgemeinen als Jungs und Mädels mit stahlharter Schale und butterweichem Kern gelten, dürfte beim Betrachten der Vollmer-Fotos Sehnsucht, Verdruss, die gute alte Zeit oder ein Weisse-noch? aufkommen, auf jeden Fall Emotion. Außenstehende, zum Beispiel Bayern, können darüber staunen, vielleicht schmunzeln, dass eines ihrer traditionellen Bekleidungsstücke - die kurze Lederhode - auch im Revier gern getragen wurde. Das sparte Waschpulver.
Vollmer hat mit diesem durchweg in Schwarzweiß gehaltenen Fotoband einen wichtigen Beitrag zur jüngeren Kulturgeschichte des Ruhrgebiets geliefert und evoziert einen Blick auf Deutschlands einst wichtigste Bergbau- und Industrieregion. Er rege "den Betrachter durch die Position, den Ausschnitt oder die Perspektive (…) unwillkürlich zur Reflexion" an, wie Oliver Scheytt, Geschäftsführer der RUHR.2010, in einem weiteren Vorwort anmerkt. Recht hat er.
© Jonas Littfers
© GeoWis (2013-05-24)
Manfred Vollmer: Mein Revier. Ein Vierteljahrhundert im Bild. Das Ruhrgebiet von 1965 bis 1989. (Mit Vorworten von Dr. Sigrid Schneider und Prof. Dr. Oliver Scheytt; mit einem Nachwort von Wolfgang Berke). Hardcover, Hochformat; 130 S.; ISBN 978-3-8375-0866-6; 1. Auflage, Klartext Verlag, Essen, 2012.