So war et!
Für Ältere ist Nylon, Pütts und Rock'n Roll ein feiner Nostalgie-Trip. Für Jüngere ein gelungenes Stück Zeit- und Kulturgeschichte.
Von Klaus Berthold (2013-06-01)
Es ist kein Geheimnis, dass nur ein sehr geringer Teil der geschriebenen Texte jemals gedruckt wird. Noch immer verstauben in Kleiderschränken, Schubladen und Kellern Aufzeichnungen, vielfach Tagebücher, Briefe und Notizen, die niemals auch nur einen Leser finden. Ich habe mich bemüht, ein Jahr lang den Bericht eines Achtzigjährigen, der als Kind bei der sogenannten Kinderlandverschickung der Nazis von seiner Familie getrennt wurde, in einem deutschen Verlag unterzubringen. Fehlanzeige!
Gewiss, die meisten Lektoren antworteten mir auf meine höfliche Anfrage. Doch veröffentlichen wollte diese Geschichte niemand. "Ordentlich geschrieben", meinte ein Lektor aus Hamburg. "Aber Schnee von gestern. So was will kein Mensch heute noch lesen." Mag so sein. Wen interessiert das Leben der Eltern und Großeltern noch in unserer vorwiegend auf Gegenwart und Zukunft fokussierten, von den Massenmedien auf das jeweils Neueste gehetzten, auf die Jugendlichkeit fixierten Zeit?
In unseren neuzeitlichen Medien kommt das historische Kleinod leider allzu oft zu kurz. Dass ein Blick in die jüngere Vergangenheit jedoch vergnüglich und interessant sein kann und es Verlage gibt, die Bücher ermöglichen, die man kaum aus der Hand legen mag, beweist die hier besprochene Sammlung von kurzen Texten, Fotos, Zeitungsanzeigen und anderen Dokumenten aus den 1950er Jahren zum Ruhrgebiet, dem Pütt. Und, vor allem, den Berichten von Zeitzeugen.
Ja, auch ich war dabei, als wir in Dortmund nach einem Film mit Bill Haley in der City (die damals noch niemand so nannte) randalierten. Auch ich habe meinen Partnerinnen während der Tanzstunden auf die Pumps getreten und später auf einer Parkbank unter ihren Petticoats das Paradies gesucht.
Einem Aufruf der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), die ihre Leser aufforderte, von den Nachkriegsjahren zu erzählen, und dem Essener Klartext Verlag, der diese zuerst in der Tageszeitung veröffentlichten Schilderungen für buchfähig erachtete, verdanke ich die Erinnerung an für längst vergessen gehaltene Zeiten.
Da werden Fotos einer BMW Isetta oder eines nahezu vorsintflutlichen Grundig-Radios zu Kristallisationspunkten, die vom Lauf der Zeit verschüttete Erlebnisse so lebendig erscheinen lassen, als wäre seither nicht ein halbes Jahrhundert vergangen, sondern bestenfalls ein Vierteljahr.
Gewiss, es ist ein weithin bekannter Sachverhalt, dass die meisten Lebensberichte nie veröffentlicht werden, sofern deren Verfasser nicht erhebliche Aufmerksamkeit (durch besondere Leistungen oder besondere Verbrechen) zu erregen vermochten.
Im vorliegenden Buch sind Erfahrungen einfacher Leute gesammelt, die vom wahren Leben in den 1950er Jahren erzählen. Schilderungen persönlicher Art und dennoch verallgemeinerungsfähig. Ich habe es gern gelesen, wobei mir lediglich die Bescheidenheit der Herausgeber ein wenig missfällt.
Typisch nur für das Ruhrgebiet sind die meisten Texte und Fotos in diesem Werk durchaus nicht. Ich habe damals sowohl in Hamburg als auch Berlin gelebt. Dort sah es - abgesehen von den nicht vorhandenen Bergwerken und Stahlhütten - kaum anders aus.
© Klaus Berthold
© GeoWis (2013-06-01)
Rolf Potthoff und Achim Nöllenheidt (Hg.): Nylon, Pütts und Rock'n Roll. Erinnerungen an die 50er Jahre im Ruhrgebiet. Hardcover, 262 S.; ISBN 978-3-8375-0879-6; 1. Auflage, Klartext Verlag, Essen, Dezember 2012.