Die Welt, so schön
Sebastião Salgado hat acht Jahre lang die Welt bereist und einige ihrer archaischen Paradiese entdeckt.
Von Uwe Goerlitz (2013-06-07)
Ein Menschenleben reicht nicht aus, um die Welt zu verstehen, geschweige denn, sie allumfassend zu Gesicht zu bekommen. Die meisten Menschen sind nie über ihre regionalen Lebensräume oder nationalen Grenzen hinausgekommen, und von den jährlich etwa eine Milliarde Touristen zieht es die allerwenigsten in Regionen, in denen keine touristische Infrastruktur vorzufinden ist.
Das ist gut so, denn dadurch bleiben viele Flecken auf unserem Planeten noch unberührt, obgleich auch in manchen Paradiesen der Bevölkerungsdruck, und damit der ökonomische, größer wird. Getreu taoistischen Verständnisses, dass nichts von Dauer sei und sich alles stets im Wandel befinde, muss man mit der Vergänglichkeit des gerade Vorhandenen rechnen.
Am eindrucksvollsten lässt sich das beim Auftreten von Naturkatastrophen beobachten - wenn die Erde bebt, Tsunamis anrollen, Gletscher abschmelzen, Flüsse massiv über die Ufer treten, Vulkane eruptieren, Busch- und Waldbrände ausbrechen. Jedes Mal verändern sich dann Landschaften. Niemand hat in den vergangenen 200.000 Jahren jedoch die Landschaften so nachhaltig verändert wie der Mensch.
Der Brasilianer Sebastião Salgado (*1944) machte es sich gemeinsam mit seiner Frau Lélia Wanick Salgado zur Aufgabe, einen kleinen Teil der archaischen Schönheit unseres Planeten im Bild festzuhalten. Finanziell unterstützt von Printmedien wie dem britischen Guardian, dem US-amerikanischen Rolling Stone, der italienischen La Repubblica, Paris Match, der portugiesischen Visão, der spanischen La Vanguardia, dem Christensen Fund, dem Wallace Global Fund, der Esprit-Mitgründerin Susie Tompkins Buell und der UNESCO, unternahm er hierzu binnen acht Jahren 32 Expeditionen, teils mit seiner Frau, mal mit seinem Sohn Juliano, oft mit seinem Freund und Bergführer Jacques Barthélemy.
Das Ergebnis ist ein knapp vier Kilogramm schwerer Fotoband mit kraftvollen, ausdrucksstarken, mitunter düster wirkenden Schwarzweißaufnahmen, die einem den Atem verschlagen. Geographisch und thematisch geordnet, entführt uns Salgado in die Antarktis zu Pinguin-, Seevögel- und Robbenkolonien, zu Walen, in die Wogen des Südatlantiks und in die Gipfel monumentaler Gebirgszüge.
Er nimmt uns mit nach West-Papua (Irian Jaya) zu den Urvölkern Yali und Korowai, zeigt uns Ausschnitte aus deren Lebensweisen; er entführt uns aufs indonesische Sumatra zu Waranen, Riesenschildkröten, Ergussgesteinen und auf die Mentawai-Inseln zu deren Ureinwohnern, die wie die Yali und Korowai prächtig ohne Mobiltelefon auskommen.
Salgado taucht für uns ein in die wie von einem anderen Planeten stammende Welt der madagassischen Tsingy-Felsgebilde im Bemaraha-Nationalpark und hält fest, unter welch widrigen Umständen sich die Madagaskarpalmen (Pachypodium lamerei; Pachypodium rosulatum) und andere Gewächse behaupten. Vielfach sind die Arten endemisch, kommen also nur dort vor.
Abgetrampelte Pfade vermeidet der Geo-Fotograf nach Möglichkeit. Vom afrikanischen Kontinent hat er Fotos vom Kratersee des Bioske-Vulkans, vom samibischen Winter und vom botswanischen Volk der San mitgebracht; ebenso Bilder von der größten Künstlerin überhaupt, der Natur, wie es sich an den Dünen bei Djanet im algerisch-libyschen Grenzgebiet bewundern lässt.
Immer wieder kommen auch die in diesen Regionen autochthonen Bevölkerungsgruppen, deren Nutzvieh und die jeweilige Tier- und Pflanzenwelt ins Bild. Zum Beispiel ein Leopard in der Nacht an einer Wasserstelle, Zebras in Aufruhr, Elefantenfamilien, Berggorillas, der äthiopische Steinbock.
Auch faszinierende Bilder aus der Borealis und Arktis sind Salgado gelungen, etwa von schneebedeckten Vulkankratern oder den skurrilen Felsausfällungen der Alaska-Yukon-Tiefebene, den eiszeitlichen Reliefs aus Kanada, den Inuit, die nach Nahrung jagen, und Rentiertrecks. Konträr dazu hat der Meister die Gebirgsaufschichtungen entlang des Colorados in einer Weise fotografiert, die ihresgleichen sucht.
Das letzte Augenmerk hat Salgado auf seinen Heimatkontinent Südamerika gerichtet, auf die extrem bedrohten Paradiese Amazonien und Pantanal. Fischer auf Einbäumen und Krokodile bei Nacht, mäandernde Flussläufe, ummantelt von Regenwald, ein scheuer Jaguar, das Volk der Zo’é, der von Bergnebel umwaberte und behangene Roraima-Tepui, eine über einen Baumstamm balancierende nackte Grazie und weitere bare Frauen der Zo’é, ein lokaler Riesenotter (Pteronura brasiliensis) aufrecht am Ufer und urzeitliche Landschaften runden dieses großartige Werk ab.
Knapp 60 Jahre nach dem seinerzeitig bahnbrechenden Schwarzweiß-Bildatlas Das Bild der Erde von Theodor Müller-Alfeld und Willy Eggers¹ liegt mit Salgados Genesis ein Werk vor, dass daran in bemerkenswerter Weise anknüpft und den Schmöker von damals in vieler Hinsicht übertrifft. Eggers und Müller-Alfeld hatten zu ihrer Zeit die Unterstützung ihrer Universitäten, doch längst nicht die technologischen Möglichkeiten wie Salgado.
Ihre Intention war die gleiche. Sie basierte auf dem Anspruch, die Welt im Bild festzuhalten und darauf hinzuweisen, wie sehr es sich lohnt, die naturgegebenen Landschaftsräume zu bewahren und Urvölkern ihren Lebensraum zu belassen. Sebastião Salgado rückt mit Genesis die rauhe und sensible Schönheit unseres Planeten in diesem Sinne dringlich in unser Bewusstsein.
Der Taschen-Verlag, dem in den vergangenen drei Jahrzehnten immer wieder exzeptionelle Buchproduktionen gelungen sind, darunter beispielsweise der grandiose Fotoband zu Edward Weston (1999), hat auch bei Genesis das richtige Gespür für das Zusammenkommen von Thematik, Fotografie, Papier, Reproduktions- und Druckkunst bewiesen. Und wenn er der Ansicht ist, dass künstlerisch wie thematisch Herausragendes am Start ist, dann lässt er sich offenbar nicht lumpen.
Deshalb gibt es neben der schon voluminösen Standardausgabe von Genesis (35,5 cm Höhe) eine 70 Zentimeter hohe, zweibändige Collector’s Edition in einer signierten, auf 2.500 Exemplare limitierten Auflage in Leinen mit Lederrücken nebst einem von Tadao Ando entworfenen Bücherständer aus Kirschbaumholz zum Preis von 2.500 €², und eine auf 100 Exemplare limitierte Art-Edition für 7.500 € inklusive beigefügter Fotos. Salgados Genesis wird also auch vom Verlag enorm hoch eingeschätzt und gewürdigt.
Die angeblich vom Heiligen Johannes zu Konstantinopel im griechischen Korinth gemachte Aussage "We walk by faith and not by sight"³, hat Salgado in geradezu erstaunlicher Weise insofern widerlegt, als er Glaube, Wahrhaftigkeit und Betrachtertum miteinander verschmolzen hat. Es erfordert viel Mut, Willenskraft und Durchhaltevermögen, sich für ein Werk wie Genesis aufzuopfern.
Ein Foto hat stets eine Geschichte zur Entstehung. Das weiß jeder, der sich ein wenig mit der Thematik beschäftigt. Salgados überwältigendes fotografisches Konvolut, ergänzt mit einem Booklet, in dem er hinreichend sachliche Informationen zu den Objekten seiner fotografischen Begierden und Motive liefert, ist geeignet, jedermanns Herz für unseren blauen Planeten zu öffnen.
¹ Theodor Müller-Alfeld und Willy Eggers (Hg.): Das Bild der Erde. Gestalt und Antlitz der Kontinente. Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin und Darmstadt, 1954.
² Pressemitteilung Taschen-Verlag, Köln, 2013.
³ Zitiert aus Ralph Blum (Kommentator): The New Book of Runes. A Handbook for the Use of Ancient Oracle: The Viking Runes. Oracle Books, Los Angeles, 1982.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2013-06-07)
Sebastião Salgado: Genesis. Mit einem Vorwort des Autors, einem Vorwort von Lélia Wanick Salgado und einem Geleitwort der Generaldirektorin der UNESCO, Irina Bokova. Standardausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag, 520 S. zzgl. 36 S. Booklet; ISBN 978-3-8365-4259-3; Taschen Verlag, Köln, 2013.