Big Disguise, Big Surprise
Edward Snowden ist ein hervorragendes Beispiel für Zivilcourage. Die deutsche Bundesregierung gibt sich ob der US-Spionage auf deutschem Territorium und massenhafter Telekommunikationsüberwachung weitgehend erschreckend ahnungslos. Teil 2.
Von Tom Geddis (2013-07-17)
45 oder ein paar mehr potentielle Anschläge will die NSA verhindert haben, fünf davon in Deutschland, wie Innenminister Friedrich stolz verkündete, nachdem er bei der US-Administration wie ein Erstsemester vorgesprochen hatte und danach wieder nach Hause geschickt wurde. Um welche es sich insgesamt und wo tatsächlich handelte, wie sie konkret verhindert wurden, wen man verhaftete, und so weiter, wissen wir bislang nur spärlich. Die so genannten Sauerland-Bomber und die Düsseldorfer Zelle sind bekannt geworden. Über die anderen angeblich verhinderten Anschläge wissen wir bislang nachprüfbar nichts.
Das gestand Innenminister Friedrich in einer Live-Schalte im ARD-Morgenmagazin (MoMa) am vergangenen Dienstag. Man müsse jetzt erst mal den "Deklassifizierungsprozess abwarten". "Druckmittel" gegen die Amerikaner habe man nicht.
Es gebe Quellenschutz, man bekomme zwar Informationen, aber keine Auskünfte darüber, woher die Informationen stammten. Wie kann das sein? Die deutsche Bundesregierung erfährt nicht, inwieweit sich Behauptungen der US-Boys nachprüfen oder verifizieren lassen? Erstsemester-Regel Nummer eins für alle Journos und angehenden Wissenschaftler: Prüfe deine Quelle auf Wahrheitsgehalt.
Friedrich, Old-School-Politiker, der in der Telekommunikationsüberwachung "auf europäischer Ebene Grenzen ziehen" wolle, gab im MoMa-Interview ein eher klägliches Bild ab, vergleichbar mit dem, das sein Kabinettskollege Thomas de Maizière (Verteidigungsminister; CDU) seit einigen Monaten abgibt. Von was für Typen wird Deutschland eigentlich seit Jahrzehnten regiert? Sind da nur Anarchisten am Werk, die gegen die Interessen der Bevölkerung regieren? Sie treten unsere Grundrechte zumindest mit Füßen.
Auch Kanzlerin Merkel weiß nicht, wie sie mit dem Thema umgehen soll. Ob ihre bisher verfolgte Taktik, kardinale Probleme mit Hilfe ihrer wichtigsten Ministerialdirektoren, Staatssekretäre und Lobbyisten anzugehen und notfalls lächelnd auszusitzen auch diesmal greift, ist fraglich. Auch in ruralen Gegenden Deutschlands nimmt man inzwischen das Politikprinzip Merkels wahr.
Im so genannten Sommer-Interview mit ARD-Mann Ulrich Deppendorf am vergangenen Sonntag ließ sich beobachten, dass Kanzlerin Merkel wenig Interesse daran hat, die USA - "unsere Verbündeten" - hart ranzunehmen, etwa in Form einer Einbestellung des hiesigen US-Botschafters zwecks Überreichung einer Protestnote. Deppendorf versäumte es, diesen Gedanken aufzuwerfen.
Neuland sei das Internet für "uns alle", konstatierte Merkel jüngst. Wenngleich sie wahrscheinlich die in Deutschland lebende Bevölkerung meinte, auf die das mehrheitlich nicht zutrifft, muss man diese Aussage auf ihr Kabinett und sie selbst beziehen. Obacht! Bislang ist kein Fall bekannt geworden, in dem ein Physiker (Merkel ist Physikerin) öffentlich so einen Blödsinn von sich gegeben hat. Dabei hat die Angelegenheit strafrechtlichen Charakter, ganz gleich, ob es sich um befreundete Nationen, NATO-Bündnispartner oder nicht in der Gunst deutscher Regierungspolitik stehender Nationen handelt.
Wer nun gedacht hätte, die SPD stürze sich auf das Thema und filetiere angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl die Regierungsparteien, hätte falschgelegen. Zaghaft, aber zu Recht, weist SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück darauf hin, Merkel habe ihren Amtseid gebrochen, indem sie eben nicht Schaden vom deutschen Volk abgewendet habe.
Für Steinbrück, der den desolatesten Wahlkampf seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland führt, so dass man annehmen könnte, er wolle Merkel gar nicht vom Thron stoßen, sondern unter ihr dienen, und die SPD ist Spyleaks genauso heikel wie für die CDU/CSU/FDP. Schließlich hat die ehemalige rot-grüne Schröder-Administration sieben Jahre lang (1998-2005) den US-Boys den Hintern geküsst und dürfte durch den ehemaligen Kanzleramtschef und Ex-Kanzlerkandidaten Steinmeier, in dessen Zuständigkeitsbereich damals die Kontrolle über die Geheimdienste fiel, eine Schwachstelle in den eigenen Reihen haben.
Der ehemalige SPD-Innenminister Otto Schily, inzwischen 81, hatte sich unter Schröder als ein Law-and-Order-Mann allererste Güte präsentiert, dem nichts zu blöd war. Neue Kampfmonturen für die Polizeien, persönliche geschäftliche Beteiligung an einem Sicherheitsunternehmen, die Einführung neuer Personaldokumente mit integrierten biometrischen Daten - Schily war die Überdosis an Kontrolle. Die jetzige Regierung mag darauf verweisen, aber sie muss sich gleichwohl attestieren lassen, dass sie nichts an Schilys antidemokratischen Gesetzen zurückgenommen hat.
Nichts gewusst, nichts gehört, nichts gesehen, lautet im Kern die grobe Rechtfertigungslinie von Merkel und Konsorten zu PRISM und TEMPORA. Wer ihnen das glaubt, taugt bestenfalls zum Heudrescher oder lebt im Mittelalter. Doch tausende verbeamtete Beschäftigte aller Gehaltseingruppierungen arbeiten in den dieses Thema angehenden Ministerien.
Sollte etwa niemand von ihnen James Bamfords 2002 erschienenes Standardwerk NSA - Die Anatomie des mächtigsten Geheimdienstes der Welt oder The Shadow Factory (2009) gelesen haben? In seinem Buch von 2002 beschreibt Bamford, dass bereits 1977 die Totalüberwachung von Bürgern in westlichen Ländern erklärtes Ziel gewesen sei und kurz danach begann. Initiiert von den USA und Großbritannien, die Kanada, Australien und Neuseeland mit ins Boot holten.
Es gibt viele Sachbücher über das Schattenleben und die Vorgehensweise von Geheimdiensten. In den USA sind mehr als in jedem anderen Land erschienen. Manche wurden ins Deutsche übersetzt und werden in Bahnhofsbuchhandlungen angeboten. Hocken in unseren Ministerien etwa zigtausende lesefaule Stümper auf Steuerzahler-Ticket? Raus mit ihnen!
Und falls doch manche von ihnen einschlägige Werke gelesen hätten, sollte dann niemand eine Zusammenfassung für Ex-Kanzler Schröder oder Noch-Kanzlerin Merkel verfasst haben? Unmöglich. Genauso wenig ist vorstellbar, dass die deutschen Bundesregierungen der vergangenen Jahre nichts vom Datenabschöpfen großen Stils seitens US-amerikanischer Geheimdienste - oder anderer - gewusst hätten.
Während Innenminister Friedrich immer noch bemüht ist, das Ausmaß von Spyleaks zu relativieren und mit den IT-technologischen Begriffen kämpft, machen sich abseits dieses Beitrags im Netz munter Häme und Spott breit. Als "Depp vom Dienst" bezeichnet die Tageszeitung (taz) ihn; für das erst spät mit eigener Meinung zum Überwachungsskandal angetretene News-Portal Spiegel Online ist er der "USA-Verteidigungsminister".
Nun fährt ihm Ex-US-Präsident Jimmy Carter in die ohnehin missglückte Parade, indem er Ed Snowdens Veröffentlichungen für „nützlich“ hält. Carter watscht damit auch Kanzlerin Merkel ab, vor allem jedoch Barack Obama, dem zu Hause neuerdings der Wind ins Gesicht bläst. So berichtet der San Francisco Chronicle heute von einer „hitzigen Debatte“ im US-Kongress zu den NSA-Abhörmethoden im Inland.
Es sei bei den Genehmigungen für Lauschangriffe nicht gemeint gewesen, flächendeckend US-Bürger zu überwachen, sondern lediglich jene, die Anlass zur Gefährdung der nationalen Sicherheit gäben, belehrte der republikanische Abgeordnete James Sensenbrenner den zuständigen Generalstaatsanwalt James Cole und schnitt ihm das Wort ab, als dieser mit Rechtfertigungen begonnen habe.
Wenn im US-Kongress Tacheles geredet wird, ist Herumeiern die schlechteste Verteidigungslinie. Ganz anders verläuft das in Deutschland. Wenn die hiesigen Schlapphüte versagen, wie im NSU-Skandal, werden deren Chefs geradezu mit Samthandschuhen angefasst, anstatt sie fristlos zu entlassen, und Minister müssen erst dann zurücktreten, wenn ihnen Schummeleien bei ihren Doktorarbeiten nachgewiesen werden konnten.
Hans-Peter Friedrich der Ahnungslose und Angela Merkel die Chefin der Ahnungslosen versuchen sich genauso wie Thomas de Maizière der Ahnungslose üb er die Sommerpause bis zur Bundestagswahl zu retten, in der Hoffnung, Spyleaks ebbe ab. Das Poker könnten sie verlieren, wenn Ed Snowden weitere Geheimnisse ans Tageslicht lässt.
© Tom Geddis
© GeoWis (2013-07-17)
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