Anspruch auf Freiheit
Das 1875 von Charles Nordhoff erschienene Buch The Communistic Societies Of The United States erscheint als Plädoyer für das Prinzip, von der Obrigkeit in Ruhe gelassen zu werden. Vor allem in Sachen des Glaubens.
Von Liz Bremer (2013-08-19)
Das vorliegende Buch ist eine Ausgabe aus dem Jahr 1965, klassifiziert als Paperback-Erstausgabe von Schocken.¹ 90 Jahre zuvor, neun Jahre nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs, war das Original bei Harper & Bros erschienen.
Während dieser Epoche war Europa von Industrialisierung, Bergbau, Stahlbaronen und Armut geprägt; Afrika, Asien und Lateinamerika wurden von ihren Kolonialmächten drangsaliert und ausgebeutet, und in den USA hatten aus Europa emigrierte Banker, Halunken und Eisenbahnbauer von Union Pacific und Central Pacific, Dampfschifffahrtseigner und aufstrebende Monopolisten des Energiewesens das Sagen.
Man war entweder importierter Sklave oder Nachfahre eines solchen; man war Sklave der Erschließungsherren der neuen Welt, Sklave der Banker; oder Sklave eines Großgrundbesitzers - Rinderhirte also. Man war auch Sklave beim Militär. Oder man war Outlaw. Insofern unterschied sich für viele Emigranten nach den USA damals die neue Welt Amerika nicht sonderlich von der alten, Europa, aus der sie geflüchtet waren.
Anders jedoch als in Europa, wo die Nachwirkungen der Inquisition des Mittel- und Spätmittelalters noch evident waren, obwohl das Zeitalter der Aufklärung mit der Französischen Revolution begonnen hatte, aber noch nicht so weit diffundiert war, dass auch Kirche, Herzogtümer, König- und Kaiserreiche autonome Lebensweisen, Individualismus und - vor allem - andere Religionen oder Götter zuließen, bot sich den aus Freiheitsmotiven heraus Ausgewanderten eine neue Chance in den USA.
Es ging ihnen - den Shakers, Icarians, Bethels, Oneidas und Wallingfords - nicht um Kommunismus in politischem Sinn, sondern in sozialem. Franklin H. Littell hebt das in seinem Vorwort zum Buch hervor. Es ging ihnen um den Ursprungssinn des Wortes "Kommune", also um eine Gemeinschaft, in der nicht notwendigerweise hierarchielos gelebt werden konnte.
Ein alle diese "kommunistischen Gesellschaften" einender Kern war die Autonomie. Sie lehnten Bevormundungen übergeordneter Instanzen, etwa von Gouverneuren oder der Präsidialadministration aus Washington, D.C., ab. Wie die spätestens seit Peter Weirs Film Witness (Der einzige Zeuge; 1984) überregional bekannt gewordenen Amish; wie die in Reservaten übrig gebliebenen Reste der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas; und wie alle heute noch in der Weite des Landes vorkommenden Klein-Kommunen und familiären Gemeinschaften, die Washington, D.C., aufgrund von Fremdbestimmung hassen.
Es waren Aussteiger und Vorboten für Nachgekommene, die ihre Ruhe vor der Obrigkeit und der Macht der katholischen Kirche haben wollten, und manche Kommune konnte sich und ihre Glaubensrichtung bis heute behaupten.
Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen sich moderne Aussteiger, die Nachgekommenen, dieses Unabhängigkeitsprinzips an, wenngleich nicht unbedingt, um religiöse Freiheit auszuleben, eher schon, um - wie die Hillbillys. die in Ruhe jagen und womöglich Unzucht betreiben wollten -, sich gelegentlich Acid, Gras oder Haschisch einverleiben zu können.
Vor allem aber waren es Blumenkinder und intellektuell bewanderte Aussteiger der 1960er und 1970er Jahre, die sich Rückzugsgebiete suchten und so den Gedanken Nordhoffs im Kern folgten. Neighborhoods, wie diese kleinen, administrativ zu einer Kommune oder einem County gehörenden Nachbarschaftszusammenschlüsse in den USA bezeichnet werden, sind gewissermaßen ein in die Moderne übertragenes Relikt Nordhoffscher Zeit. In den USA gibt es sie in jedem Bundesstaat. In Kalifornien gar zuhauf. Zum Beispiel oberhalb der San Francisco Bay Area, in der Gegend um Muir Beach und der Bolinas Bucht (Stinson Beach) und im jeweiligen Hinterland.
Nordhoffs Werk, das, so wird betont, auf subjektiver Wahrnehmung und Erfahrung beruht, ist eine Lektüre aus einer Epoche, die durch Hollywood-Filme, etwa Western, leider verzerrt wurde. Es erlaubt den Blick in eine Zeit, in der es kleinen (Glaubens-)Gemeinschaften darum ging, unter gemeinsamer Weltanschauung ein Auskommen zu finden und ihren Anspruch auf Freiheit durchzusetzen. Autark und autonom, bestenfalls. Utopisch zwar auch, aber nicht hoffnungslos.
Auf Deutsch ist Nordhoffs Buch, soweit bekannt, nie erschienen.
¹ Weitere Ausgaben (Auswahl) von: Hillary House Publishers, 1961; Dover Publications, 1966; Red and Black Publishers, 2008. Amazon führt eine E-Book-Version. Das Urheberrecht an Nordhoffs Buch ist seit langem abgelaufen.
© Liz Bremer
© GeoWis (2013-08-19)