Mit System, doch ohne Höschen
Die außer Kontrolle geratene Situation in der Ukraine zeigt einmal mehr, wie aggressiv die EU-Expansionspolitik sein kann. Deutschlands Rolle wirkte dabei von Anfang an dubios - und wie die EU insgesamt entkoppelt von ihren Bevölkerungen.
Von Tom Geddis (2014-05-31)
OSZE-Beobachter sind zum bevorzugten Ziel der vom Westen als Separatisten bezeichneten Kiew-Gegner geworden. Erst waren es die unter falschem Ticket durch die Ukraine reisenden Bundeswehrsoldaten, die gefangengenommen, jedoch nach einigen Tagen unversehrt wieder freigelassen wurden. Kiew, so hieß es, hatte der ominösen Mission zugestimmt. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen konnte bislang allerdings nicht plausibel erklären, welche Mission die vier deutschen Soldaten hatten. Es roch nach Spionage und hätte in manch anderem Land zu einer Verurteilung diesbezüglich gereicht.
Dann wurden weitere so genannte OSZE-Beobachter-Teams festgesetzt. So in der von Widerstandskämpfer Wjatscheslaw Ponomarew bezeichneten "Volksrepublik Luhansk". Seine Terminologie unterscheidet sich deutlich von der westlicher Medien, die von "Entführung" und "Geiseln" (BILD) sprechen, während Ponomarew von In-Gewahrsamnahme spricht.
Es herrscht längst ein rauher bewaffneter Konflikt (noch) niederer Intensität im Osten und Südwesten der Ukraine. Mit der Wahl des milliardenschweren Schokoladenkönigs Petro Poroschenko, ehemals Direktor der ukrainischen Nationalbank, hat sich der Westteil einen Hardliner zum Präsidenten gewählt, der sein wie auch immer zustande gekommenes Vermögen nicht in nach Osten abfließen sehen will.
Er hat die Keule ausgepackt, kaum dass das Ergebnis der Wahl vom 25. Mai amtlich war. In seinem Kalfakter Jazenjuk, Premierminister, findet er Unterstützung für seine aggressive Linie. Jazenjuk, illegal an die Macht gekommen, hatte ihm schließlich den Weg bereitet. Nun behauptet er kühn in BILD: "Seit den ersten Tagen meiner Arbeit im Amt des Ministerpräsidenten, habe ich mich an den Osten der Ukraine mit Frieden gewandt." Wem will er diesen Schwachsinn eigentlich verkaufen?
Den Deutschen. Wem sonst? Ob sie mehrheitlich diese Version der aktuellen Geschichtsklitterung teilen, darf bezweifelt werden. Zumindest wollen laut einer Umfrage im Auftrag des Magazins stern 57 Prozent die Ukraine nicht in der EU sehen, während nur ein Drittel einen EU-Beitritt befürworten. Angesicht der Eskalation des Konflikts dürfte sich diese Mehrheit bestätigt fühlen.
Die Meinung der Deutschen aber spiegelt sich kaum in der deutschen Regierung wider. Zwar trägt diese eine deutliche Mitschuld an der jetzigen Situation, doch Außenminister Steinmeier und Kanzlerin Merkel bügeln das ab. Steinmeier echauffierte sich dieser Tage über seine Kritiker, die ihn während einer Wahlkampfveranstaltung zur Europawahl für seinen Parteifreund Martin Schulz als Kriegstreiber bezeichneten.
"Ihr solltet euch überlegen, wer hier die Kriegstreiber sind. Wer eine ganze Gesellschaft als Faschisten bezeichnet, der treibt den Krieg, der treibt den Konflikt", sagte er auf der Veranstaltung in Berlin. Die Welt bestehe nicht "auf der einen Seite aus Friedensengeln und auf der anderen Seite aus Bösewichten". Einmal in Rage, legte sich der Bundesminister des Äußeren richtig ins Zeug, indem er den Kritikern politischen Sachverstand absprach. "Dieser Protest dahinten zeigt, dass es immer noch Menschen gibt, die Europa nicht verstanden2 hätten. "Europa, das ist die Lehre aus Zeiten, in denen man sich nicht zugehört hat, in denen man aufeinander geschossen hat." Und nun? Schießen sich West- und Ost-Ukrainer tot.
Vielleicht haben aber die Kritiker "Europa" sehr wohl verstanden. Haben verstanden, dass es auf einem Expansionskurs mit der Brieftasche ist. Haben verstanden, dass es ausgesprochen rational ist, die Dummen zu den Waffen greifen zu lassen, wenn man sie ihnen bezahlt. Haben verstanden, dass Deutschland für die Erweiterung von Absatzmärkten und Zugriff auf Rohstoffe als Wolf im Schafspelz unterwegs nach Osten ist. Der aus dem beschaulichen Detmold stammende Außenminister scheint immer noch nicht verstanden zu haben, dass er - ob er es wollte oder nicht - ein Mit-Initiator des nun in der Ukraine herrschenden Konfliktes war. In wessen Sinne handelt dieser Mann? Doch wohl nicht im Sinne der deutschen Bevölkerung.
Deutschlands Regierung agiert bislang in der Ukraine-Krise nach dem Triple-d-Prinzip: dilettantisch, dubios, destruktiv. Es unterstützte bis zur Wahl die Putschisten in Kiew und beschwerte sich darüber, dass Russland nicht mitzog.
Deutschland nickte Sanktionen gegen Russland ab und forderte von Putin, Einfluss auf die pro-russischen Antifaschisten zu nehmen. Diese Dialektik ist vom Prinzip her zwar nicht neu, doch erst wieder möglich, seit Deutschland eine Kanzlerin hat, die mit ihren jeweiligen Kabinetten beharrlich gegen die Interessen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung gearbeitet hat und es weiterhin zu tun gedenkt.
Subsummiert: Erst wurden Lunten gelegt, die Brandstiftung zur Folge hatten; dann, als die Feuer außer Kontrolle gerieten, wurde nach der Feuerwehr gerufen. Neben vielen Städten im Osten der Ukraine, darunter Donezk, Luhansk und Slowjansk, ist vor Wochen auch die ukrainische Perle des Schwarzen Meeres, Odessa, ein Opfer der Unruhen und des Aufruhrs geworden. Dabei wurde auch vor Massenmord nicht zurückgeschreckt. Vor gut einem Monat sperrten pro-kiewsche Gruppen knapp 40 Menschen in ein Gewerkschaftsgebäude und zündeten es an. 37 Menschen kamen zu Tode. Wahrscheinlich werden die staatsanwaltlichen Ermittlungen im Sande verlaufen.
Blick zurück
Die Ukraine ist mit Russland lange nicht schlecht gefahren. Die Ukrainer haben sich eingerichtet. An den Küsten des Schwarzen Meeres wurde auf Mediterran gemacht. Bestehende Badestrände wurden getrimmt, Yachthäfen ebenso. In der Peripherie der Großstädte, wo die Einkommen geringer sind, baut man bis heute Gemüse an. Trinkwasser wird teils aus Brunnen bezogen. Idylle einerseits, haarsträubende Zustände beim Arbeitsschutz beim Bergbau andererseits. Dennoch: Der Bevölkerung der Ukraine ging es im Vergleich mit EU-Mitgliedsstaaten wie Bulgarien oder Rumänien gut. Die Jugend Europas reiste alljährlich zum Feiern an die Schwarzmeerstrände.
Probleme ergaben sich, nachdem Nationalistin Tymoschenko an die Macht gekommen war, als Frontfrau der Orangenen Revolution (2004) auftrat und auch noch begann, sich der EU-Einflusssphäre zu nähern.
Weil Kiew notorisch klamm war und die Ukraine als Bruderstaat galt, hatte etwa Gazprom jahrelang darauf verzichtet, Mahnungen zu Rechnungen russischer Gaslieferungen konsequent zu verfolgen und Zahlungskulanz eingeräumt. Doch hieß das nie, dass man auf die Zahlung verzichtete oder sie bis zum Sankt-Nimmerleinstag aufschöbe.
Moskau horchte auf und zog die Daumenschrauben an, indem es den Ausgleich offener Rechnungen einforderte und den Gaspreis fulminant erhöhte. Und als Kiew unter Tymoschenko nicht zahlte, machte Moskau das Gleiche wie jeder deutsche Energieversorger es machen würde: Die Lieferung wurde so lange gestoppt, bis die offenen Forderungen ausgeglichen waren.
Julija Tymoschenko ist eine seit Jahren für Kontroversen sorgende, von den Blödmaschinen¹ des Westens - in Deutschland verkörpert von prominenten Print- und Online-Medien und den Hauptnachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Anker-TV-Sender - gehätschelte und ikonisierte Person mit ausgeprägtem Hang zum Radikalen. Die erklärte Putin-Gegnerin erscheint faschistoid bis in ihre Fußspitzen und hätte womöglich unter Hitler gut Karriere machen können. Ihr öffentliches Erscheinungsbild - streng gepflochtener Zopf als Kopfkranz, zugeknöpftes Kleid bis zum Kinnansatz - hätte gut in diese düstere Epoche gepasst. Ihre vor einigen Wochen publik gewordenen vertraulichen, extrem bebremdlich wirkenden Äußerungen ebenso. Da erwies sie sich als unfeine, gar gefährliche Person.
"Ich bin selbst bereit, eine Kalaschnikow in die Hand zu nehmen und dem Dreckskerl in den Kopf zu schießen", ließ sie sich in einem mitgeschnittenen Telefonat vernehmen, das alsdann auf dem Videokanal Youtube geleakt wurde. Entlarvend. Mit "Dreckskerl" hat die radikale Tymoschenko vermutlich Russlands Chef Putin gemeint. In Nachbetrachtung mag es befremdlich erscheinen, dass der Westen, vorrangig Deutschland, die Frau unterstützt hatte. Unter dem Aspekt der EU-Expansionspolitik aber macht es Sinn.
Unerlaubte Telefongesprächsmitschnitte und deren Veröffentlichung sind in Mode gekommen, seit Edward Snowden sich bei der NSA bedient hat und in Russland Asyl erhielt, das dieser Tage seinem Ende zu nahen scheint. Anfang Februar 2014 erregte die US-amerikanische EU-Beauftragte Victoria Nuland kurzzeitig mit ihrer "Fuck-the-EU"-Äußerung gegenüber dem US-Botschafter Geoffrey Pyatt internationales Aufsehen.
Ziemlich zeitnah tauchte die Plapperei der zur Entourage der EU-Außenbeauftragten Ashton gehörenden Helga Schmid im Netz auf. Die Deutsche Schmid ärgerte sich laut faz.net gegenüber dem Polen Jan Tombinski, EU-Botschafter in Kiew, über die USA, die das Vorgehen der EU gegen Russland als "zu weich" bezeichnet haben sollen.
Dass Russland es sich nicht gefallen lassen kann, sich vom Westen seinen ohnehin geschwundenen Einflussbereich weiter abnagen zu lassen, liegt auf der Hand. Dessen war sich der Westen bewusst, bevor er der Braut Ukraine schöne Augen machte, angespornt dadurch, dass die Braut schon länger ohne Höschen vor ihm stand, mittellos sei und als Aussteuer bestenfalls das mitbringen könne, was im Boden steckt. Doch das nähmen Deutschland, der Rest der EU und die USA in Kauf, solange ihr militärischer Arm, die NATO, Operationsraum hinzugewänne.
Der vermeintliche Bräutigam Kiews, der Westen, ein abgezockter, emotionsloser und vielköpfiger Stratege mit Saugnäpfen wie ein Riesenkalmar, fährt plötzlich Geschütze auf und lässt Polen vorpreschen, der düpierte einstige Verlobte, Russland, verbreite Angst. Man brauche vorsorglich Schutz. Prompt reagierte die NATO, indem sie Pratouillenflieger ins Baltikum und einige hundert Soldaten nach Polen entsendete.
Indes, wenn Russland, das die vom Landweg ins Mutterland abgetrennte Exklave Kaliningrad zu schützen hat, Gleiches unternimmt, wie vor zwei Monaten, steigen Nato-Abfangjäger auf. Polen, ausgerechnet das Land, dass so gerne die Demokratie wollte und nun zum Zentralismus Brüssels gehört, das Land, das 2012 den Euro einführen wollte, es aber nicht schaffte - in Nachbetrachtung eine glückliche Fügung für die polnische Bevölkerung -, ruft nach vermehrter NATO-Präsens. Solche Rufe hört man gern in Brüssel, wo die europäischen Militärs beheimatet sind und von wo aus der Eurozentrismus als Doktrin bis in die Kühlschränke der EU-Bürger langt. Dabei ist Russland an Polen so wenig interessiert wie Deutschland an den Malvinas.
Unsere sich für den Nabel der Welt haltende EU bricht schlicht bestehende, gerade mal zwei Jahrzehnte alte politische Abmachungen mit Russland, insbesondere die, dass die NATO sich von Russlands Haustür fernhalten werde. 25 Jahre nach dem Mauerfall steht sie nicht nur vor der Tür, sondern versucht sie einzutreten. Was die Frage aufwirft: Hat der Westen die damalige Sowjetunion über den Tisch gezogen, als um Perestroika (1985), Mauerfall (1989) und Wiedervereinigung (1990) ging?
Die Fakten sprechen für sich. Während ein großer Teil der Deutschen sich im Wiedervereinigungstaumel befand, begannen Unabhängigkeitsbestrebungen sowjetischer Staaten und autonomen Regionen. In der Folge schrumpfte die ehemalige UdSSR erst bis zur GUS, dann bis zur Russischen Föderation, während der Westen sich zunächst nach Südosten, anschließend nach Nordosten und schließlich nach Osten ausbreitete. Die NATO stets dabei. Die Rufe nach ihr sind auch nicht neu.
1999 bombardierte sie mit dem Segen des deutschen Bundestages unter Führung der USA erstmals seit ihrer Gründung einen europäischen Staat – das von Russland unterstützte Jugoslawien. Operation Allied Forces, ein Label muss sein, hieß die lange vorbereitete Aktion. Deutscher Verteidigungsminister war damals der inzwischen zum Präsidenten des Bundes Deutscher Radfahrer aufgestiegene Rudolf Scharping, den Posten des Außenministers bekleidete der Grüne Joschka Fischer. Gerhard Schröder war Kanzler.
Zuvor waren damals Verhandlungen mit Serbien im französischen Ort Rambouillet gescheitert. Rudolf Scharping hatte sich von Luftaufnahmen täuschen lassen. Die Öffentlichkeit war desinformiert worden. Vor allem aber war sie medial bombardiert, weichgeklopft worden, so dass sie kaum noch wusste, wer die Wahrheit sagte. Später kam heraus, dass die Lügner in Washington, Brüssel und Berlin saßen.
Inzwischen ist Serbiens damaliger Präsident Milosevic im Gefängnis in Den Haag verstorben (2006) und NATO-Generalsekretär Rasmussen ist auf Mission auf dem Balkan, jüngst in Macedonien. In einem Land, das wie die Ukraine, Bulgarien, Rumänien, Moldau, dem Kosovo und wie sie alle heißen, ihm einen Empfang bereitete, der nur einen Zweck hat: Mach’s mir! Denn alle diese Staaten stehen ohne Höschen vor der geballten NATO-Kraft und der EU mit ihrem ökonomischen Motor und machen gerne die Beine breit. Wie im richtigen Leben: Wer keine eigenen Ideen hat, muss sich prostituieren.
Offensichtlich ist, dass die EU, wirtschaftlich dominiert von Deutschland, weiter nach Osten expandieren will. Kolonisierung mit dem Scheckbuch, eine Variante, zu der Hitler zu seiner Zeit zu dämlich war - was zeigt, dass Evolution keine Mär ist -, ist die Eroberungsstrategie der deutschen, und damit der EU-Politik. Russland, aber auch China, hat das erkannt. Allerdings verfahren beide Großmächte genauso.
¹ Markus Metz und Georg Seeßlen: Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität. Suhrkamp, Berlin, 2011.
Tom Geddis
GeoWis (2014-05-31)