In der Stille
Die Region Ya’an ist vor allem wegen ihrer Panda-Zuchtstation bekannt. Doch sie hat mehr als diese putzigen Bambusfresser zu bieten. Vor allem die Stadt Ya’an.
Von Uwe Goerlitz (2014-06-08)
Ya’an, die Stadt, liegt am Rande des Jiajin-Gebirges. Im Süden liegen die Daxiang-Berge. Die Höhenzüge gehören zu den südwestlichen Ausläufern des Himalayas. Vom kleinen, zentral liegenden Busbahnhof in Sichuans Hauptstadt Chengdu sind es 150 Kilometer bis Ya’an. Die Fahrt kostet 50 RMB (ca. 6,50 €) und dauert exakt zwei Stunden. Alle halbe Stunde fahren täglich von früh bis spät Busse in beide Richtungen.
Meist sind es Pendler, die die Busse nutzen. An Wochenenden auch Leute, die entweder einen Ausflug nach Ya’an unternehmen oder in Gegenrichtung zum Shoppen nach Chengdu fahren.
Touristen von außerhalb Chinas sieht man nicht häufig. Wer das üppige Angebot an Snacks für unterwegs aus Europa gewohnt ist, sucht etwa am Busbahnhof in Chengdu vergebens danach. Es gibt zwar allerlei Knabbereien in Tüten und Schachteln an den wenigen Kiosken, ansonsten jedoch nur heiße Maiskolben und Brühwurst, jeweils am Stiel.
Die Fahrt von Chengdu in die Stadt des Regens (Yu Du), wie Ya’an auch genannt wird, führt über die mautpflichtige Autobahn G 5. Die Trasse verläuft durch saftig grüne Hügel- und Berglandschaften, die den, der etwas dafür übrig hat, erkennen lässt, wie fruchtbar auch die westliche Flanke des Sichuan-Beckens ist. Hier, so könnte man annehmen, zeigt sich das ursprüngliche China in ganzer Herrlichkeit.
Nicht ohne Stolz sagen Chinesen, im Süden und Südwesten, wozu die Provinzen Sichuan, Guizhou, Yunnan, Hunan, die Regierungsunmittelbare Stadt-Land Region Chongqing und die Autonome Region Guangxi zählen, seien die landschaftlich schönsten und argraisch fruchtbarsten Regionen Chinas. Dass die Region auch gefährlich ist, erwies sich zuletzt wieder im Frühjahr 2013.
Ya’an liegt an der Longmenshan-Bruchzone. Am 20. April vergangenen Jahres gegen 8:00 Uhr morgens (Ortszeit) ereignete sich erneut ein schweres Erdbeben mit Magnituden zwischen 6.6 und 7.0. Am schwersten wurden die zu Ya’an gehörenden Landkreise Baoxing und Lushan getroffen. Zwar hatte das Beben nicht die katastrophalen Folgen des fünf Jahre zuvor stattgefundenen, das die Regionen Beichuan und Mianyang faktisch eingeebnet hatte, dennoch gab es mehr als 200 Tote und fast 16.000 Verletzte zu beklagen, davon über 6.000 Schwerverletzte.
Zwei Millionen Menschen waren insgesamt betroffen, knapp eine Viertelmillion wurden evakuiert. 80.000 Häuser in den ländlichen Regionen wurden stark beschädigt. Ein großer Teil stürzte ein. Rund 300.000 Zimmer wurden unbewohnbar.
In den städtischen Gebieten wurden 20.000 Gebäude beschädigt, 10.000 davon stürzten ein. Zahlreiche Straßen waren nicht mehr passierbar, Brücken knickten ein. Auch eine der wichtigsten und schönsten in Ya’an-Stadt.
Der Gesamtschaden an der Infrastruktur belief sich offiziellen Schätzungen zufolge auf umgerechnet gut fünf Milliarden Euro. Vieles ist inzwischen wieder aufgebaut, auch die innerstädtische historische Brücke in Ya’an, die wie fünf weitere den durch die Stadt fließenden Qingyi-Fluss (Qingyi Jiang) quert.
Panda-Touristen schaffen es oft nicht bis in die Stadt, wenn sie am kleinen Busbahnhof nördlich des Qingyi Jiangs aussteigen. Ihr Ziel ist die Örtlichkeit Bifengxia, die zirka eine Stunde Fahrt in nördlicher Richtung liegende Zuchtstation für die schwarzweißen Petze. Man muss zeitig unterwegs sein, damit man gegen Mittag die Gelegenheit hat, die dann schon mit einem üppigen Bambus-Frühstück genährten Bären streicheln zu können. Von Chengdu fahren Busse direkt nach Bifengxia, so dass der Busbahnhof Ya’ans gar nicht erst angefahren werden muss.
Ya’an ist eine bezirksfreie Stadt mit einem Verwaltungsgebiet von 15.354 qkm und zirka 1,55 Millionen Einwohnern. Der Hauptort ist Mengyang - auch: Ya’an City -, eine übersichtliche mittlere Großstadt mit rund 270.000 Einwohnern, die sich - ähnlich wie Wuppertal an der Wupper - entlang beider Ufer des Qingyi Jiangs erstreckt.
Sie wirkt ruhig, gelassen. Taxis herkömmlicher Art - in Ya’an sind sie grün - gibt es nicht viele. Fahrrad-Taxis mit Elektro-Hilfsmotor, in denen zwei Personen Platz haben, dominieren den Transport. Mitunter dürfen auch drei Personen Platz nehmen, wenn eine auf dem Schoß der anderen sitzt. 60 Cent bis zwei Euro kostet die Beförderung.
Wer es eilig hat in Ya’an, ist in der falschen Stadt. Entschleunigung scheint hier gelebt zu werden. Die Hektik und Geschäftigkeit, die in so vielen Metropolen Chinas herrscht, sucht man in Ya’an vergebens. Man schlendert über die Trottoirs, spaziert über die Brücken und Straßen, offenbar in der Gewissheit, dass die motorisierten Verkehrsteilnehmer auf Fußgänger achten. So ist es.
In manchen Straßen wird auf den Gehsteigen das überall in Sichuan beliebte Mahjong gespielt. Stets um Geld, meist allerdings geht es um kleine Summen. Auch in einigen Teehäusern gibt es die Möglichkeit, mit diesem aus 144 Steinen bestehenden Spiel den Tag zu verbringen. Dort jedoch an einem aus schwerem Holz gefertigten und mit einem Billardfilz versehenen Mahjong-Tisch. Dazu wird Tee getrunken, grüner in unterschiedlichen geschmacklichen Ausprägungen, oder aus Früchten und Kernen aufgebrühter.
Ya’an City ist eine grüne Stadt. Es regnet oft, aber nur kurz und meist abends oder in der Nacht. Die Luft ist gut. Es riecht frisch, trotz wenigen Windes. Und trotz 30 °C schon Mitte Mai. Die großen europäischen und US-amerikanischen Fastfood-Ketten sind (noch) nicht eingefallen in diese Stadt; ebenso wenig die weltumspannenden Textil-Ketten.
Was nicht heißt, dass es im Bekleidungssegment kein Einerlei gäbe. Es sind chinesische Ketten, die das Angebot bestimmen. Das reicht von qualitätsarmer Billigware bis zu hochwertigem Zwirn, wobei das Hochwertige nicht gleich bedeuten muss, den Namen eines der teuren europäischen Label zu tragen.
Viel wichtiger als Markenkleidung, in Chinas Metropolen oft ein Muss für die Mittel- und Oberschicht, ist den Ya’anern die Qualität des Essens, die generell hoch ist. In Sichuan wird zudem scharf gewürzt, und man ist gut beraten, nicht auf alles zu beißen, was essbar aussieht. Gerade in Suppen, etwa Fischsuppen, werden Gewürze mitgekocht, die es in sich haben.
Was dann beispielsweise wie ein essbares Kraut erscheint, ist ungenießbar für den Gaumen, und schwer verdaulich für den Magen. Am Ende beginnt der Unkundige oder Beratungsresistente ganz schnell zu weinen. Daher ist es immer von Vorteil, jemanden bei sich zu haben, der kundig ist und Hinweise gibt. Als Faustregel gilt: Was Einheimische nicht essen, sollte man als Novize in der Stadt auch nicht essen.
Zum Essen geht man nicht notwendigerweise in ein Restaurant, sondern setzt sich an einen der Tische davor. Die klimatischen Bedingungen erlauben es ganzjährig. Dem Koch oder der Köchin kann man mitunter dabei zuschauen, wie er die Mahlzeiten zubereitet. So in einem unweit der örtlichen Universität (Ya’an University of Forestry) liegendem Restaurant, das auf Nudelsuppen spezialisiert ist.
Ya’ans Studierende essen hier fern der Mensa gerne zu Mittag und treffen dabei auf Leute aus der Nachbarschaft, die nicht studieren.
Für zwei Euro gibt es zum Beispiel eine kräftige, gut gewürzte köstliche Nudelsuppe (Dandan) mit wahlweise Geflügel-, Schweine- oder Rindfleisch. Dabei ist der Anteil an Nudeln und Fleisch weitaus höher als der an Suppe. Die Regel ist, anders als in Europa, dass man bezahlt, sobald man mit dem Essen fertig ist, und den Tisch dann rasch verlässt. Die nächsten Gäste warten bereits.
Es hat etwas Mediterranes, geradezu Andalusisches, wenn man die Art der Alltagsbewältigung in Ya’an betrachtet. Die Leute, ganz gleich welchen Alters, Status oder Berufs, nehmen sich Zeit für das, was sie tun. Man lässt die Kirche sozusagen im Dorf, regt sich nicht auf, wenn es, was nicht oft vorkommt, beispielsweise einen Verkehrsstau gibt.
Verglichen mit Beijing, Shanghai, Shenzhen und deren Einzugsgebieten, oder mit Sichuans Hauptstadt Chengdu, scheinen die Ya’aner etwas zu schätzen, was kostbarer als Geld ist: Zeit. Sie nehmen sie sich und scheinen zudem eine Lebenshaltung zu verkörpern, nach der sich etwa die Deutschen sehnen: Gelassenheit. Die zeigt sich auch am Fluss.
Der 276 km lange Qingyi Jiang, der bei Leshan in den Dadu He mündet und zum Flusssystem des Yangtze gehört, führt im Mai häufig Niedrigwasser, was Angler ausnutzen, um für sich oder Restaurants zu fischen.
Sobald es dunkel geworden ist, gehört das Flussufer allerdings jungen Paaren, die sich dort treffen, um zu knutschen, während in der Nähe die wieder aufgebaute Brücke in Lichtkonturen erstrahlt.
Vom Hotel Yu Du aus, einer Drei-Sterne-Herberge in der Tingjin-Straße am nördlichen Flussufer unweit des Busbahnhofs, in dem ab 45 € ein ansprechendes Zimmer ohne Minibar buchbar ist, lässt sich die illuminierte Stadt am besten betrachten, wobei die alte Brücke hervorsticht. Sie ist den Leuten hier ein Symbol, weshalb ihre historische Shopping-Mall so schnell wie möglich wieder aufgebaut wird. Ende des Jahres soll es vollbracht sein.
Abends, vorwiegend an Freitagen und Samstagen, gehört es zum Ausgehprogramm, sich in eine Karaoke-Bar zu begeben. Bei Europäern und anderen Westlern hat Karaoke nicht das allerbeste Standing. Es rangiert im Allgemeinen irgendwo zwischen Infantilismus und Trash. Indes, es ist eine ernste Sache, die man so gut als möglich betreiben möchte. Denn Karaoke ist auch ein zwischenmenschlicher Wettbewerb. Wer singt besser?
Man muss sich als Außenstehender oder Karaoke-Verächter hineinbegeben, um sich ein Urteil zu erlauben. Gut möglich, dass man nachher eine andere Auffassung vertritt, etwa, wenn man mit Leuten, die man gesanglich zuvor gar nicht einschätzen konnte, oder denen man Stimme nicht zutraute, in so eine Bar geht und plötzlich von deren musikalischem Talent überwältig wird.
100 RMB (ca. 13 €) Gebühr kostet die mit bequemen Sitzmöbeln ausgestattete Kabine, in der man ungestört ist. An modernen Flachbildschirmen kann man unter einigen tausend Songs für diese Gebühr 100 auswählen, die man singen möchte. Das reicht in der Regel, denn die Öffnungszeiten sind von 19:00-24:00 Uhr. Text und Video zur Auswahl erscheinen auf einem großen Flatscreen. Die Mikrophone und das Soundsystem sind bühnentauglich. Im Preis inbegriffen ist ein Früchte-Bouquet.
Feiern bis der Arzt kommt, ist in Ya’an nicht das Motto. Um Mitternacht ist auch an Wochenenden oft Schluss. Vereinzelt trifft man auf harmlose Betrunkene, die noch einige Shantys von ihrem Karaoke-Abend nachzusingen versuchen oder vor sich hin brabbeln. Es geht gesittet zu. Frauen haben keine Furcht, im Dunkeln allein nach Hause zu gehen. Ohnehin nimmt man eines der Fahrrad-Taxis und lässt sich zu seinem Zielort fahren.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2014-06-08)
Teil 1 GOM-Reportage China 2014: Beim Friseur in Ya'an >>