Unglaublich fahrlässig
Haben die Veranstalter des Pfingst-Open-Airs in Essen-Werden trotz Unwetterwarnung das Festival nicht rechtzeitig abgesagt? Der Verdacht drängt sich auf.
Von Uwe Goerlitz (2014-06-12)
Der Festivaltag zum 32. Pfingst-Open-Air (POAE) im beschaulichen Essener Ortsteil Werden begann wie die meisten solcher Tage beginnen: Mit guter Stimmung. Die wurde selbst von dem um eine halbe Stunde verzögerten Einlasstermin getrübt. Offiziell sollten die Besucher um 13 Uhr auf das Gelände rechts der Ruhr strömen können. Da, wie es hieß, der Veranstalter noch nicht mit den Vorbereitungen fertig geworden sei, musste gewartet werden.
Zu diesem Zeitpunkt war der Himmel über Werden bei Temperaturen um 30 °C bedeckt. Die Meldung des Deutschen Wetterdienstes, es werde Gewitter und Starkregen geben, war seit mehreren Stunden publik.
Der Bundesdienst hatte sie auch auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht. In den Radiosendern des Westdeutschen Rundfunks wurde sie regelmäßig nach den Nachrichten wiederholt.
Der Meteorologe Jörg Kachelmann, dessen Firma Meteomedia, aus der er vor einem Jahr ausgeschieden ist, jahrelang die ARD mit Wetterprognosen bediente, die er selbst vorgetragen hatte und mit seinem jovialen Stil zum Kult-Wetterfrosch wurde, kritisierte den WDR allerdings stark, indem er ihm vorwarf, die Warnungen schlicht nicht als gefährlich eingestuft zu haben. Kachelmann forderte gleichzeitig den Rücktritt von WDR-Intendent Tom Buhrow. Zu Recht.
In der Tat spulte der WDR die Gewitterwarnung routinemäßig ab, weshalb sich wohl die meisten Hören keine besonderen Sorgen machten. Das ist insofern bemerkenswert, da die Anstalt und die ARD über eine Vielzahl an Meteorologen verfügt, darunter so prominente wie Claudia Kleinert und Sven Plöger. Doch die Dimension des Phänomens wurde zumindest öffentlich nicht dramatisiert.
Möglicherweise hing der verzögerte Einlass auf die von Bäumen gesäumten Festivalwiesen rechts der Ruhr damit zusammen, dass sich Veranstalter, Feuerwehr und Polizei darüber berieten, ob man die Veranstaltung durchführen oder sie absagen solle. Dafür spricht neben dem späteren Einlass auch, dass ständig Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr, Ambulanzen und Polizei sich Weg durch die wartende Menge bahnten und aufs Gelände fuhren.
Da gegen 13:30 Uhr erst mehrere hundert, bestenfalls tausend Leute auf Einlass warteten, wäre es keine allzu große Sache gewesen, das Open-Air abzusagen und die Wartenden geordnet nach Hause zu schicken.
Klar war nämlich zu diesem Zeitpunkt längst, dass von Südwesten, aus Frankreich, eine heftige Gewitterfront im Anmarsch war, die auf feucht-heiße Luft-Cluster im Süden und Nordwesten Nordrhein-Westfalens träfe.
Auf das weitläufige Gelände an der Ruhr, auf dem sich gut 25.000 Leute verteilen können, spazierten sodann die ersten ein, zwei tausend Besucher und verteilten sich auf den Wiesen zwischen Hauptbühne und dem Elektronk-Musik-Bereich, wo ein DeeJay auflegte. Vom noch bedeckten Himmel ließ sich niemand die Stimmung beeinträchtigen.
Decken wurden ausgebreitet, Getränke zu sich genommen, Karten gespielt. An den vielen Bierständen, den Bratwurst- und Dönerbuden und den Flohmarktständen standen die Leute ebenso an wie an den provisorischen Souvernir-Shops. Die längste Schlange bildete sich am so genannten Bändchen-Stand, an dem sich die Besucher ihr Treiueband für kleines Geld kaufen. Sammerleidenschaft.
Nach und nach füllte sich das Gelände. Der bedeckte Himmel verschwand und die Sonne sorgte schnell für Temperaturen von über 30 °C im Schatten. Der fand sich reichlich unter Bäumen und den Sitzgelegenheiten unter Spanndächern und keinen ordentlichen Husten aushaltenden Party-Zelten, die man für den Privatgebrauch für wenige Euro im Baumarkt erwerben kann. Die Musik schien für die meisten Festivalbesucher eher noch Nebensache zu sein.
Selfis wurden geschossen, Gruppenfotos gemacht, auch gezielt mit professioneller Kameraausrüstung die eine oder andere Schönheit in Szene gesetzt. Bis zu den beiden Höhepunkten der Veranstaltung, die Indy-Folker Mighty Oaks und die Hip Hopper MC Fitti, waren es noch Stunden. Die Wasserschutzpolizei und ihre Kollegen in Oliv patrouillierten das Gelände und ermahnte all jene, die sich in alkoholisiertem Zustand ans Ufer der Ruhr begaben oder in ihr badeten.
Der Tretbootverleiher machte ein ordentliches Geschäft. Von der Treppe zu seinem Steg war jede Stufe doppelt mit Wartenden besetzt, wobei auch die ganz normale Pfingstausflugskundschaft darauf hoffte, eines der 20 Boote ergattern zu können. Zehn Euro für eine Stunde, 18 € für zwei Stunden. Immer mit dem mündlichen Hinweis, dass 20 Minuten mit der Strömung treten 40 Minuten gegen den Strom bedeuteten.
Am Nachmittag, gegen 16 Uhr, nahmen sich viele des vom örtlichen Restaurant Löwental (Motto: Gastrosophie) mit veranstalteten Festivals eine Auszeit, spazierten in den Ort, standen lange vor Kika’s Eiscafé an, das im Ruhrgebiet für seine Qualität bekannt ist und Eis-Gourmets aus einem 50-km-Radius anzieht, gingen gemächlich auf die Brehm-Halbinsel, um sich dort ein ruhiges Plätzchen im Schatten zu suchen, oder zum Tretbootverleih.
Auf der Ruhr zogen gelegentlich die Vierer mit Steuermann bzw. Steuerfrau vom Essen-Werdener Ruder-Club 1896 e.V. ihre Bahnen, vereinzelt führten auch Sportbootkapitäne ihr Wasservehikel aus, während die Tretboot-Skipper hauptsächlich an Spaß dachten. Trotz der Gefahr, in eine Unterströmung zu geraten oder sich mit den Beinen im Unterwasserbewuchs zu verhaken, sprangen einige in die tückische Ruhr. Allerdings blieben sie stets in der Nähe ihres Wasserfahrrads. Passiert ist, soweit bekannt, nichts. Andere begnügten sich mit gegenseitigem Nassspritzen oder Im-Kreis-Fahren.
Dass es gegen Abend Gewitter und starken Regen gäbe, auch mögliche Orkanböen, gehörte immer noch nicht ins ständige Bewusstsein der Festivalbesucher. Warum auch? Die Wetterprognose war nicht als dramatisch oder gar extrem bedrohlich verkündet worden. So bediente der Tretbootverleih weiter seine Kundschaft und die Mighty Oaks traten gegen 20 Uhr auf.
Es gab noch keine spürbaren oder optischen Anzeichen für eine Extremwetterlage, obwohl da schon in Köln und Düsseldorf Land unter gewesen war. Spätestens nach dem Auftritt der Mighty Oaks gegen 20:30 Uhr hätte die Veranstaltung allerdings beendet werden müssen. Doch MC Fitti waren noch dran und traten nach einer kurzen Umbaupause auf.
Als es sich dann schlagartig zuzog, der Himmel geradezu binnen Minuten von Hellblau auf Dunkel und dann Schwarz wechselte, scherzte MC Fitti-Frontmann Dirk Witek noch, es könne „gleich ein bisschen nass“ werden. Die ersten Blitze wurden entsprechend bejubelt und beklatscht. Irgendwer muss dem Rapper aber dann geflüstert haben, dass nun Schluss mit lustig sei. „Das ist jetzt kein Scherz, Leute“, sagte er plötzlich. „Wir müssen aufhören. Es wird zu gefährlich.“
Kaum hatte er das ausgesprochen, begann es zu schütten und zu stürmen. Die Leute eilten von der Wiese zu den zuvorigen Schattenspendern, blieben aber nicht lange dort, denn massives Geäst drohte auf sie zu stürzen. Die Einsatzkräfte schrien die schon völlig durchnässten - kaum jemand trug mehr als Shorts, Jeans, T-Shirt, Kleid und leichtes Schuhwerk -, sie sollten sich schleunigst vom Gelände entfernen und zum Ausgang rennen.
Die privaten Tennisanlagen, nicht von Bäumen gesäumt, dienten zusätzlich als Fluchtweg und waren kurzerhand von Polizei und Feuerwehr freigegeben worden. Die Sicht war durch den von Orkanböen angetriebenen massiven Regen nahe null. Binnen weniger Minuten verwandelte sich ein heißer Sommertag in eine Katastrophe. Unter der die Ruhr überquerenden Brücke der Ruhrtalstraße unweit des S-Bahnhofs Werden suchten bereits Hunderte Schutz. Mehr und mehr Menschen drängten sich darunter, sodass zuvor Angekommene in Scharen zum zirka 150 Meter entfernten S-Bahnhof weiterliefen.
Dort stand eine S-Bahn, die nicht abfahren durfte, weil bereits der Schienenverkehr eingestellt worden war. In ihr suchten viele Unterschlupf, was insofern gefährlich war, als die Oberleitung oder auch massives Geäst auf sie hätte fallen können. Auf dem Bahnsteig gab es teils panisches Gedränge und daraus resultierende Unvorsichtigkeiten. So kletterten manche über den verzinkten Zaun, der den Bahnsteig säumt, anstatt 30 Meter zurückzulaufen, um auf ungefährlichem Weg wieder auf Gehsteig oder Bahnhofsvorplatz zu gelangen.
Vor der vom Bahnhof überdachten Dönerbude sammelten sich Hunderte, um unter Schutz zu finden, während sich vor ihnen die ersten Folgen des noch anhaltenden Starkregens und nun rapide abflachenden Orkans zeigte. Die Bredeneyer Straße, normalerweise der schnellste und kürzeste Weg nach Essen Hauptbahnhof, war dicht. Die wenigen Taxis, ohnehin schnell belegt, kamen ebenso wenig voran wie die vereinzelten Busse.
"Leck mich fett!", "Ich fass es nicht!", "Sowas hab ich ja noch nie erlebt!", "Mir ist kalt", "Ich glaub das alles nicht!", "Schau dir das an!", "Was ist eigentlich los?", "Wieso hat uns niemand gewarnt?", "Was ist das für ein Veranstalter? Hat der nichts aus der Loveparade gelernt?", hörte man die eben noch fröhlichen Festivalbesucher fragen und sagen. Fragen, die Veranstalter, Sicherheitskräfte und die Stadt Essen zu beantworten haben. Auf sie könnten unangehme Folgen zukorollen.
Es dauerte Stunden, bis ausreichend Busse die Leute zum Essener HBF transportiert hatten. Die Straßen, ganz gleich ob über die Route Essen-Kettwig-Meisenburger Straße-Alfred-Straße oder den Bredeneyer Berg hinauf: Überall sah es aus, als wäre Krieg gewesen. Entwurzelte Bäume, schwere Äste, Gedöns von Balkonen, umgeknickte Ampeln, Laternenmäste, Glas, Verkehrsschilder lagen auf den Straßen. In der Essener Innenstadt das gleiche Bild, nur noch schlimmer. Bäume auf Autos, auf Häuserdächer, Brücken, Balkone gestürzt. Ihr Wurzelwerk riss Asphaltdecken auf.
Der Hauptbahnhof glich einer Notunterkunft. Niemand kam von dort weg. Die wenigen noch verbliebenen Taxis konnten nicht genutzt werden, weil deren Fahrer sich weigerten, Gäste zu befördern. Zu gefährlich. Teils noch geöffnete Gastronomiebetriebe (ohne Philosophie!) machten die Geschäfte des Jahres.
Das rabiate Wetterphänomen, angekündigt zwar vom Deutschen Wetterdienst, aber nicht ausreichend präzise in seiner fatalen Wirkung und lokalen Erscheinung vorhergesagt, dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Die Beseitigung der Folgen wird mehrere Wochen, mitunter Monate in Anspruch nehmen.
Dass das Open-Air-Festival in Essen-Werden nicht frühzeitig beendet wurde, fällt auf Veranstalter und Sicherheitskräfte zurück. Dass es lediglich 30 Verletzte gegeben habe, die Hälfte davon schwer, ist angesichts der Vielzahl der Besucher ein äußerst glücklicher Umstand. Doch dass trotz bei zumindest den Sicherheits- und Rettungskräften bekannt gewesener Unwetterwarnung noch die Mighty Oaks und sogar MC Fitti auftreten durften, grenzt an grobe Fahrlässigkeit und Inkaufnahme von Verletzten. Mindestens.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2014-06-12)