Manhattan 2001 - mit und ohne WTC
Vor einem Jahr erschien Thomas Pynchons Roman Bleeding Edge auf Englisch. In Kürze erscheint er auch auf Deutsch. Vielleicht ist die Übersetzung ja besser als das Original.
Von Wolfgang Körner (2014-09-30)
Pynchon ist Kult, seit er vor mehr als 50 Jahren seinen Roman V. veröffentlichte. Weitere drei große Werke, nämlich Gravity’s Rainbow (1973), Mason & Dixon (1997) und Against The Day (2006) hat er seitdem vollbracht. Davor, dazwischen und danach sind ihm zwar ordentliche, aber keine herausragenden mehr gelungen.
Kult ist auch Apple, obwohl der selbstherrliche Konzern aus dem kalifornischen Cupertino seine Anhänger jüngst mit einem deutlich misslungenen Software-Update seines kurz zuvor auf den Markt gebrachten iPhone 6 ziemlich verärgert hat. Doch was machen Apple-Jünger? Sie kaufen sich das smarte Handtelefon trotzdem. Irgendwie scheint dieses Verhaltensmuster schon lange auch für Pynchons Anhänger zu gelten.
Mit dem Roman Bleeding Edge, der im Big Apple angesiedelt ist und demnächst auf Deutsch erscheint, hat der öffentlichkeitsscheue Autor, von dem wohl für alle Tage sein aus den 1950er Jahren stammendes Bewerbungsfoto mit den schon kultigen Hasenzähnen durch die Netzwelt geistert, keinen fünften großen Roman abgeliefert. Von einem durchgängigen Plot, und Romanfiguren, mit denen sich der Leser identifizieren und deren Entwicklung er gespannt verfolgen könnte, kann bei Pynchon diesmal keine Rede sein. Er tritt trotz manch interessanter Wortakrobatik auf der Stelle.
Obwohl er sich zweifelsohne viel vorgenommen hatte, was bereits in einem seinem Text vorangestellten Zitat von Donald E. Westlake zum Ausdruck kommt. "New York as a character in a mystery would not be the detective, would not be the murderer. It would be the enigmatic suspect, who knows the real story but isn’t going to tell it.2
Dieser Ansatz wirkt wie ein postmodernes Literaturspiel, in dem zwar erzählt, das Erzählte jedoch immer wieder modifiziert, in Frage gestellt und mystifiziert wird. Sozusagen eine Dekonstruktion, in welcher der Leser kaum mehr stabile Handlungslinien und Charaktere erkennt, sondern bestenfalls ein vielschichtiges, fragmentiertes Spiel, in dessen Verlauf der Text gewissermaßen ins Diffuse entschwindet.
Was Pynchon dennoch gelingt, ist, dem Lebensgefühl in New York um das Jahr 2001 nachzuspüren. Damit spielt der der Kultautor in diesem Roman von Anfang an. Bevor es direkt thematisiert wird, spiegelt er das längst nicht bewältigte amerikanische Trauma wieder: den von wem auch immer bewirkten Einsturz der beiden Türme des WTC.
Selbstverständlich kommt auch die postmoderne Dekonstruktion nicht ohne Protagonisten aus. Pynchon wartet, wie bei ihm üblich, mit einer Fülle an Figuren auf, die einerseits interessant, andererseits völlig unglaubwürdig daherkommen. Die Hauptfigur Maxine Tarnow, eine jüdische Mutter zweier oft widerspenstiger Kinder, befasst sich, obwohl ihr die Lizenz dazu entzogen wurde, nach wie vor mit der Aufklärung von Wirtschaftsvergehen. Sie will und kann nicht anders.
Doch ganz profan: Sie nimmt an Veranstaltungen der Schule ihrer Kinder teil. Sie sehnt sich oft nach ihrem Ehemann, der sich entfernt hat. Sie lebt das Leben einer durchschnittlichen Frau des amerikanischen Mittelstandes. Sie plaudert mit Freundinnen. Sie speist in angesagten Restaurants. Sie kauft Textilien bei Bergdorff und Filenes Basement. Und sie trägt häufig eine Beretta in ihrer Handtasche. Wofür es einen Grund gibt.
Denn seit sie, mittels der Unterstützung durch Hacker, Grund zu der Annahme hat, dass unter dem allgemein zugänglichen Internet ein Netz namens Deep Archer existiert, über das der Hauptbösewicht dieses Romans, Gabriel Ice, eine Art Mega-Mogul, seine finsteren Geschäfte betreibt, etwa die Überweisung erheblicher Summen an Empfänger in arabischen Staaten, ist sie auf der Hut. Zwischen diesen beiden Polen, Gabriel und Maxine, tummeln sich zahlreiche schräge Figuren, darunter Nerds und Produzenten apokrypher DVDs, die vom KGB ausgebildeten Hacker Mischa und Grischa und ein in Maxine verliebter CIA-Agent namens Windust.
Selbstverständlich bringen auch Mossad und Speznaz Farbe in den Roman, der in zahlreichen Episoden an eine Fülle von Handlungsorten führt, die sehr genau die Topographie Manhattans vermitteln. Manche Sequenzen dieses Romans erscheinen angesichts des historischen Kontextes höchst vergnüglich. So, wenn Maxine einen Freund vor Madoff Securities warnt, die monatlich zwei Prozent Zinsen zahlen - eine ebenso weise Vorausschau kommender Ereignisse wie eine DVD, die zeigt, wie arabisch wirkende Personen eine Stinger-Rakete auf dem Dach eines Hochhauses erst auf- und dann wieder abbauen.
Pynchon wäre nicht Pynchon, wenn er den turning point des Romans, den Einsturz des WTC, nicht kühl, ohne großes Sentiment darstellte. Gewiss, auch hier äußern Protagonisten sehr schnell Zweifel an der offiziellen Meinung, es handele sich um einen Anschlag arabischer Terroristen.
Doch die Tatsache, dass vor dem 11.9.2001 erhebliche Mengen Aktien von United Airlines und American Airlines "shorted", also blind verkauft wurden, ist den Romanfiguren keinesfalls entgangen. Klar, da könnte es Insider gegeben haben. Spätestens an Thanksgiving, wenn der Kampf um den Truthahn gewonnen ist, geht der Alltag wieder seinen gewohnten Gang, wie auch das Weihnachtsfest in New York am jüdischen Personal dieses Romans nicht spurlos vorübergeht.
Subsumiert ist Bleeding Edge ein zwar interessanter, jedoch auch bemüht wirkender Text, bei dem mich am meisten beeindruckte, wie gekonnt sich der jetzt siebensundsiebzig Jahre alte Autor den Jargon der Hackerszene, der jungen Generation und sogar jiddische Sprachmuster angeeignet hat.
Leser, die einen spannenden Plot erwarten, seien hingegen gewarnt. Denn den bekommen sie von Pynchon auch diesmal nicht. Stattdessen ein Stück Literatur. Das ist gut so. Wie man allerdings 9/11 literarisch aufs Kürzeste auf den Punkt bringen kann, hat Tom Geddis in seinem vor über acht Jahren erschienenen E-Book Coahuila gezeigt.
Wolfgang Körner
© GeoWis (2014-09-30)