"Warten ist ein ganz besonderer Zustand"
Von Mariam Backes (2007-02-24)
Es ist ein dünner Roman, doch nicht im Sinne von dürftig. Man hat die 123 Seiten schnell gelesen, aber man erinnert sich länger an die Geschichte. Lenka Reinerová, die letzte deutschschreibende tschechische Schriftstellerin, die im Mai 91 wird, hat einen ausgesprochen lesenswerten Roman in der Ich-Form vorgelegt.
Natürlich ist er geprägt von ihren Erlebnissen während der Zwischenkriegs- Kriegs- und Nachkriegsjahre, von ihren Exilen und Entbehrungen, damaligen Ängsten und immer wieder Alltäglichem. Aber es ist nichts Larmoyantes darin zu finden, ganz und gar nicht. Es geht ums Warten. Ums Warten, zum Beispiel, in einem Belgrader Wartezimmer, das zu einer - wie die Grand Dame es bezeichnet - "Gebäranstalt" gehört.
"Warten" habe "viele Varianten", wie der Leser erfährt. Klar, Warten bedeutet, Geduld aufzubringen, nicht die Contenance zu verlieren, sich der Hoffnung hinzugeben, man komme schon noch dran, werde erhört oder begegne seinem Schicksal sicherlich früh genug. Warten bedeutet im Kern, sich Zeit zu nehmen.
Dies hat Reinerová getan. Sie war im Widerstand, im Exil in Mexiko (1941), war Opfer von Stalins Säuberungsdoktrin in kommunistischen Bruderländern (1952) und hatte nach dem Prager Frühling (1968) viele Jahre Publikationsverbot. Sie wurde rehabilitiert, erhielt 1999 den Schillerring und 2002 die Ehrenbürgerschaft von Prag.
Der Roman ist in seiner Botschaft beinahe subtil angelegt. Unweigerlich erkennt man die Strapazen von Frauen, die aufrecht waren und sich den Widrigkeiten ihrer Zeit entgegenstellten. Die Autorin, sicherlich in eine Reihe zu stellen mit Tina Modotti, war eine davon. Bewundernswert, dass sie so milde ist, was diesen Roman betrifft. "Warten", so schreibt sie, "ist ein ganz besonderer Zustand (...)".
© Mariam Backes
© GeoWis (2007-02-24)
Update (2008-06-30): Am 27. Juni verstarb Lenka Reinerová in Prag.
Lenka Reinerová: Das Geheimnis der nächsten Minuten. Hardcover, 123 S.; ISBN 978-3-351-03204-3. Aufbau-Verlag, Berlin, 2007. Erschienen am 24. Februar 2007.
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Update (2008-06-29): Am 27. Juni 2008 verstarb Lenka Reinerová in ihrer Heimatstadt Prag.