Ungebremste Fahrt voraus
Chinas enormes Wirtschaftswachstum bereitet den Ökonomen des Landes inzwischen Sorgen. Doch ein Ende ist nicht in Sicht.
Von Uwe Goerlitz und Wei Wang (2007-12-29)
Yao Jingyuan, Chef-Ökonom der Nationalen Statistikbehörde Chinas (NBS) geht davon aus, daß sich das Wirtschaftswachstum seines Landes in 2008 verlangsame, wie er heute gegenüber der Nachrichtenagentur Xinhua sagte. Jedenfalls werde es "weniger als 11 Prozent" betragen.
Inwieweit das für den Rest der Welt eine beruhigende Nachricht ist, läßt sich im Hinblick auf Chinas 11,5-prozentiges Wirtschaftswachstum und seiner im Mittel 4,5-prozentigen Inflationsrate (2007) leicht beantworten: die Nachricht ist beunruhigend.
Im November betrug die Inflationsrate sogar 6,9 Prozent und war damit laut NBS die höchste der vergangenen elf Jahre. Geschuldet ist diese hohe Inflation vor allem den deutlich gestiegenen Preisen für Lebensmittel. So verteuerte sich etwa Geflügel um mehr als 38 Prozent, Schweinefleisch um knapp 50, Gemüse um knapp 30 und Speiseöl um 34 Prozent.
Auch die Immobilienpreise stiegen im Mittel um etwa acht Prozent, wenngleich sie mancherorts vom zuvor hohen Vormonatsniveau sanken. So in Guangzhou. Dort kostete der Quadratmeter Wohnraum im November 2007 rund 1040 Euro. Im Oktober lag er noch bei 1150 Euro. Durchschnittlich kostete der Quadratmeter Wohnfläche in Guangzhou 2005 noch 507 Euro. Ein Jahr später 632. In 2007 betrug die Steigerung dort gegenüber 2006 indes gut 60 Prozent.
Aufgrund der hohen Inflationsrate verlieren Sparer Geld. Denn anders als in den meisten westlichen Ländern, in denen die Zinsen für beispielsweise auf 12 Monate festgelegtes Geld meist über der Inflationsrate liegen, betrugen sie in China bis vor einer Woche durchschnittlich 3,26 Prozent. Am 21. Dezember wurden sie um 27 Prozentpunkte angehoben und belaufen sich nun auf 4,14 Prozent.
Preissteigerungen für ausgewählte Lebensmittelprodukte, 2007
Produkt: | Getreide | Speiseöl | Geflügel | Schweinefl. | Meeresfrüchte | Gemüse | Obst | Eier | Zutaten |
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Steigerung: | 6.7 % | 34.0 % | 38.3 % | 54.9 % | 7.0 % | 29.9 % | 8.5 % | 14.3 % | 3.9 % |
Tabelle: | GeoWis; | Quelle: | NBS | | | | | | |
Trotz Anhebung liegt dieser Zinsatz immer noch unter der Inflationsrate. Kein Wunder also, daß Privatanleger, vor allem jene, die mit einem Jahreseinkommen zwischen 5800 und 15600 Euro zur Mittelklasse zählen, Teile ihrer Ersparnisse über vielfältige Kanäle ins Ausland schaffen, vorzugsweise in den Euro-Raum, wo es bis zu 4,9 Prozent für 12 Monate gibt.
Da helfen auch die Gedankenspiele und Prognosen von Zinsexperten nicht viel, um Sparern die Angst vor dem Geldverlust zu nehmen. Jun Ma, Chef-Ökonom der Strategischen Abteilung 'China/Hong Kong/Macau' bei der Deutschen Bank in Hong Kong geht zwar davon aus, daß "die People's Bank of China (PBoC) in der ersten Hälfte des kommenden Jahres die Zinsraten noch ein- oder zweimal anheben" werde, wie er der Asia Times (22.12.2007) sagte, prognostiert aber auch eine zunächst anhaltende Inflationsrate von "fünf Prozent oder darüber" für das erste Halbjahr 2008.
Gegenüber der nach Einkommen definierten chinesischen Mittelklasse, der sich laut einer Umfrage¹ nur 2,2 Prozent zugehörig fühlen - während 83 Prozent dieser sozialen Schicht glauben, Mittelklasse sei man erst dann, wenn man neben einem guten und regelmäßigen Einkommen auch Haus und Auto besitze - leiden die Bauern und Wanderarbeiter überproportional an der Inflation.
Sie profitieren zudem weder vom erneut zweistelligen Wirtschaftswachstum des Landes, noch vom Handelsbilanzüberschuß, der 2007 bei 180 Milliarden Euro lag und damit gegenüber 2006 um etwa 27 Prozent stieg.
Die Bauern spüren deutlicher als die urbane Bevölkerung die gestiegenen Kosten für Kredite, Saatgut, Transport und Energie, ohne diese ausreichend kompensieren zu können. Sofern sie Kredite mit variablen Zinssätzen aufgenommen haben, stecken sie nun wenigstens bis zum Bauchnabel in ihren Reis- und Gemüsefeldern.
Längst ist China zu einer rigorosen Dreiklassengesellschaft mutiert. Hier eine im einstelligen Prozentbereich heimisch gewordene Klientel von Superreichen, die sich ungeniert alles leistet, was sich auch die Neureichen in Putins Russland leisten, dort eine definierte Mittelschicht, die sich zu mehr als vier Fünfteln nicht so versteht, und am Ende ein 800-Millionen-Heer von Bauern und Wanderarbeitern, das am Rand der Gesellschaft steht. Ohne das China jedoch nicht nur nicht funktionierte, sondern zusammenbräche.
Einmal pro Jahr, wenn in Beijing der Volkskongreß zusammenkommt, interessieren die Nöte der ruralen Bevölkerung. Danach, wenn auch die Exoten zu Wortmeldungen gekommen sind und der Kongreß wie immer im Einklang ausgeklungen ist, geht es ungebremst weiter mit der Ideologie - des Wachstums.
Zwar verfolgt Chinas Justiz inzwischen rigoros jede Art von Korruption, sofern sie ihr gewahr wird und besonders, wenn es sich um Personen in exponierter Position handelt, die in die eigene Tasche wirtschaften - wie beispielsweise Wang Chengming, ehemals Chef der Shanghai Electric Group, dem vorgeworfen wurde, rund 30 Millionen Euro für sich abgezweigt zu haben, weshalb er vor einer Woche zum Tode verurteilt wurde -, doch sind es oft nur Einzelfälle.
Die bisher erreichte Wohlstandsmehrung in den urbanen Zentren diffundiert trotz enormer Anstrengungen seitens der Regierung zum Ausbau der Verkehrsinfrastruktur hingegen kaum in die häufig noch vom Wohlstand abgekoppelten ländlichen Regionen. Das Partizipationsprinzip an der Moderne bedeutet für die Bauern vorwiegend steigende Transportkosten, nicht aber Internetzugänge, Kompensation für Hochwasserschäden oder Mißernten.
Insofern dürfte es die 800 Millionen Marginalisierten auch wenig interessieren, wenn Chinas Vize-Premier Wu Yi, die als Eiserne Lady gilt, angekündigt hat, nach dem Volkskongreß im kommenden Jahr zurückzutreten und keinen weiteren Job anzunehmen. "Ich hoffe, die Leute können mich vollständig vergessen", sagte sie der Nachrichtenagentur Xinhua.
Wu Yi, gelernte Ingenieurin - Schwerpunkt Öl-Drilling - aus Wuhan, Provinz Hubei, gehört laut Forbes Magazine zu den zwei mächtigsten Frauen des Globus. Direkt nach der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wer hätte das gedacht? Wu Yi hat in China Einfluß. Zwar weniger aufs Wirtschaftswachstum, jedoch auf die Politik, vor allem auf die praktische.
Hu Jintao, Chinas Staatspräsident, und Wen Jiabao, Chinas Premier, haben ein stetes Ohr für die 'iron lady' (China Daily).
So setzte sie im Jahr 2003 den Gesundheitsminister Zhang Wenkang ab, als sie diesen für ungeeignet erachtete, mit der Vogelgrippe (SARS) umzugehen. Wu, die neben ihrer Funktion als Vize-Premier zuständig für Chinas Außenhandel ist, hatte sich gesorgt und die Konsequenzen gezogen.
Nach Wu Yi wird jemand an ihre Stelle treten und ihre hinterlassenen Fußstapfen ausfüllen müssen. Ungeachtet dessen, ob es ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin meistern, ebenso rigoros Politik zu betreiben, wird es abseits des vorübergehenden Großereignisses Olympische Spiele für China künftig darum gehen, wie es seinen Energiehunger befriedigen kann.
Lange Jahre ohne Atomkraftwerke (AKW) ausgekommen, betreibt China in den Provinzen Zhejiang, Jiangsu und Guangdong inzwischen elf dieser Anlagen, die insgesamt gerade 1,1 Prozent zur Energieproduktion beitragen. In Relation zu Wasser- und Thermokraftwerken - letztere im wesentlichen durch Kohleverfeuerung betrieben - ein verschwindend geringer Anteil.
In den kommenden 12 Jahren wird das Land sechs weitere Kernkraftwerksanlagen bauen, ohne daß ihm nennenswerte Hindernisse in den Weg gelegt werden. Hierzu seien bereits Vereinbarungen mit den Kraftwerksbauern und -betreibern Westinghouse und Areva getroffen worden (s. Schaubild).
Während Westinghouse je zwei Anlagen in Zhejiang und in der Provinz Shandong nach amerikanischer AP1000-Technologie bauen wird, wird die französische Areva zwei Druckwasseranlagen (EPR) aktuellen europäischen Standards in Taishan, Provinz Guangdong, errichten.
Mit Hochdruck wird gegenwärtig am Ausbau der Tianwan-Atomkraftanlage gearbeitet, in der zwei Reaktoren russischen Typs (AES-91) in Betrieb sind. Insgesamt soll die Anlage mit sechs weiteren Reaktoren erweitert werden. Die Gesamtleistung soll mit acht Reaktoren dann 8200 Megawatt betragen.
Für die zweite Phase, in der die Reaktoren drei und vier gebaut werden sollen, seien im November 2007 die Verträge zwischen China und Russland unterzeichnet worden, so Jiang Guoyuan, General Manager der Betreibergesellschaft Jiangsu Nuclear Power Corporation, an der der chinesische Staat 50 Prozent hält, gegenüber China Daily. Im September 2008 sollen Jiang zufolge die Beteiligten einen abschließenden Vertrag über die Errichtung der restlichen Reaktoren schließen.
Je rasanter Chinas Wirtschaftswachstum sich präsentiert, desto ausgeprägter ist sein Energiebedarf. Selbst wenn sich das Wirtschaftswachstum als konstant, günstigstenfalls als leicht abschwächend erweisen sollte, bleibt der gegenwärtige Energiebedarf mindestens bestehen. Wahrscheinlicher aber ist, daß er steigt.
Dies vor allem auch, weil nicht mehr die metropolitanen Regionen von Beijing, Shanghai, Tianjin oder Guangzhou die Wachstumsstatistiken etwa im industriellen Sektor anführen, sondern entlegenere Provinzen. So steigerte die Inselprovinz Hainan ihren industriellen Output² gegenüber 2006 um 35,5 Prozent, die Autonome Region Innere Mongolei um 30,4, die Provinz Guangxi um 26,3 und die Provinzen Fujian und Henan jeweils um 24,2 Prozent.³ Im gleichen Zeitraum ist Chinas Energiebedarf um durchschnittlich um 15,8 Prozent gestiegen.
Ob die Hoffnung von Yao Jingyuan Realität werden wird und China in 2008 unter elf Prozent Wirtschaftswachstum bleibt, oder ob Jun Mas Annahme sich bewahrheitet, wonach die Inflation sich bei mindestens fünf Prozent bewegen wird, zieht die Kuh nicht vom Eis. Inflationsbereinigt beliefe sich das Wachstum noch immer bei stolzen fünf bis sechs Prozent. Werte, die für kein westliches Industrieland prognostiziert werden.
¹ Die Umfrage wurde von China Youth Daily und Sina.com zum Thema 'Wer wird in den kommenden 10 Jahren Mittelklasse sein?' unter 7313 Chinesen durchgeführt. Sie folgte einer zuvor von der Fudan University und Mastercard durchgeführten, ähnlichen Umfrage unter 1736 Chinesen in den Metropolen Beijing, Shanghai und Guangzhou. (Quelle: China Daily, 27.12.2007)
² Bezogen auf die Wertschöpfung und den Zeitraum November 2006 bis November 2007. (Quelle: NBS)
³ Zum Vergleich (gleicher Zeitraum wie ²): Metropolitane Regionen Beijing 13,7%; Shanghai 12,6%; Tianjin 18,2%. (Quelle: NBS)
© Uwe Goerlitz und Wei Wang
© GeoWis (2007-12-29; 14:03:34)