Liebesgrüsse aus Moskau oder Vladimir Sorokins negative Utopie
Von Wolfgang Körner (2008-03-03)
Bedauerlicherweise trifft neue Literatur aus Russland hierzulande gewöhnlich nur auf das Interesse breiter Leserschichten, wenn es sich um Krimialromane meist weiblicher Autoren handelt. So wurden auch die bisher ins Deutsche übersetzten Romane des in Moskau lebenden Vladimir Sorokin von der Literaturkritik weitgehend ignoriert und, höflich gesagt, bestenfalls zu Achtungserfolgen.
Obwohl sich deutsche Leser noch immer sehr stark für die Nazizeit interessieren und im ZDF nahezu ständig deren Ende aufbereitet wird, wurden auf Sorokins Romane fast nur die Liebhaber phantastischer Science Fiction aufmerksam, die mit ihnen nicht sonderlich glücklich wurden.
Gewiß, Sorokin siedelt seine Plots gewöhnlich in der Zukunft an und spielt mit Elementen des Genres. Er überschreitet dessen Konventionen allerdings regelmäßig, übertrifft die üblichen Stilmittel der Sci-Fi scheinbar mühelos und fasziniert mit phantastischen, in sich völlig unglaubwürdigen Handlungslinien, die er zudem noch mit grellen obszönen Szenen würzt.
In seinem höchst gelungenen Roman Der himmelblaue Speck (dt. DuMont, 2000) gelingt es Wissenschaftlern irgendwo in Sibirien, tote russische Klassiker zu klonen, aus deren Geist eine Substanz gewonnen wird, die Europa ins Jahr 1950 zurück versetzt.
Stalin und Hitler haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Sie sind gute Freunde, die den Rest der Welt beherrschen und ihre Sexualität auf überraschende Weise ausleben. Josef Stalin schläft mit Nikita Chrustschow. Adolf Hitler steigt mit Stalins Tochter ins Bett, und wenn ich mich recht erinnere, kommt auch Leni Riefenstahl zu ihrem Recht.
Chaotisch und bis hin zur Absurdität wirbelt Sorokin Zeit- und Handlungsebenen durcheinander, spielt mit Elementen russischer wie deutscher Geschichte und - so sicher er mit den unterschiedlichsten Stilmitteln jongliert - den deutschen Science Fiction-Leser dürfte die Fülle von Anspielungen und Verweisen erheblich irritieren. Damit verglichen sind Lem, Baillard und sogar Bradbury brave Realisten.
In seinem soeben hierzulande in vorzüglicher Übersetzung von Andreas Tretner veröffentlichen Roman Der Tag des Opritschniks arbeitet Sorokin mit ähnlichen Stilmitteln.
Im Jahr 2027 ist Russland vom Rest Europas durch eine Mauer getrennt, die nur von Rohren überwunden wird, durch die Energie in den Westen fließt. Das Land wurde in eine Feudaldiktatur umgewandelt und wird von einem Autokraten, dem Gossudar, brutal regiert.
Dieser Alleinherrscher unterdrückt das Volk mit einer Truppe von Opritschniki, für die der Autor den Namen der Garde Iwans des Schrecklichen ausgeliehen hat.
Ein Tag aus dem Leben eines dieser Opritschniki wird vom morgendlichen Erwachen des Helden nach einer durchzechten Nacht bis zur homosexuellen Massenorgie mit masochistischer Foltereinlage erzählt, wobei der Titel des Buches auf Alexander Solschenizyns Ein Tag aus dem Leben des Iwan Dennissowitsch anspielt.
Der Tag des Opritschniks beginnt mit dem Mord an einem 'Bojaren', dessen Frau vergewaltigt und dessen Haus angezündet werden. Offensichtlich eine Anspielung auf Putins erhebliche Einschränkung der Macht russischer Oligarchen, die sich die Boden-schätze des Landes unter den Nagel zu reißen versuchten.
Nein, ein demokratischer Rechtsstaat ist dieses Russland Sorokins gewiß nicht. Die Theater werden von der Opritschina zensiert. Mißliebige Autoren öffentlich ausgepeitscht oder mit einer Feder im Hintern umgebracht. Korruption ist an der Tagesordnung. Die drohende Verbannung nach Sibirien kann durch Bußgelder an die Opritschina - am besten in Gestalt von Goldrubeln - abgewendet werden. Konsumgüter werden aus China importiert, und auch hier kassiert der Staat kräftig mit.
Überflüssig, es zu erwähnen: auch in diesem Roman erweist der Autor den russischen Klassikern wie üblich seine Reverenz. Ihre dickleibigen Werke heizen den Kamin einer Pythia, die der Gossudarin, der Ehefrau des Herrschers, bei der Verwirklichung ihrer sexuellen Bedürfnisse behilflich ist.
Der Roman strotzt vor Anspielungen und Obszönitäten. Rodina, der Name einer der beiden Zigarettenmarken, zwischen denen der Russe noch wählen kann, spielt auf den Begriff Heimat an. Bei den sexuellen Orgien in der Sauna werden Rauschgifte konsumiert, die nicht nur wie ein Mega-Viagra wirken, sondern sogar die Hoden erleuchten. Und so weiter. Und so weiter.
Als politisch kräftig eingefärbten Trash könnte man diesen Roman abtun, wäre er nicht hervorragend geschrieben und von einem Meister ins Deutsche übersetzt.
Das postmoderne Spiel mit Stilelementen der Prosa bis hin zur Ballade, der Reichtum an Metaphern, Einfällen und Anspielungen läßt nahezu alles bieder, wenn nicht langweilig erscheinen, was zeitgenössische deutsche Autoren dem Leser anbieten.
Gewiß, Sorokins Roman ist in vielen Passagen schockierend obszön. Aber hier halten es aufgeklärte Leser inzwischen mit Oscar Wilde: "Es gibt keine moralischen oder unmoralischen Bücher. Ein Buch ist gut geschrieben oder schlecht geschrieben. Das ist alles."
Überflüssig, es zu erwähnen: jeder große Erfolg eines literarischen Titels ist meist auf außerliterarische Umstände zurückzuführen. Im Falle dieses Autors ist es dessen entschiedene Ablehnung der Politik Putins, der dem Zugriff multinationaler Konzerne auf Russland sehr konsequent Grenzen setzt. Eine Demokratie im westlichen Sinne ist dieses Russland gewiß nicht.
Dennoch, ein Autor wie Vladimir Sorokin wird nicht mehr nach Sibirien transportiert. Seine Bücher wurden zwar von 'Naschi', Angehörigen einer Jugendorganisation, in eine riesige Toilette gespült, doch der Autor kann ungehindert durch die Welt reisen. Zum Beispiel nach Deutschland, wo er gerade eine Lesereise abgeschlossen hat.
© Wolfgang Körner
© GeoWis (2008-03-03)
Vladimir Sorokin: Der Tag des Opritschniks. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Hardcover, 256 S., ISBN: 978-3-462-03962-8, Kiepenheuer & Witsch, Köln, Januar 2008.
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