Eine Liebe (?) zur Zeit der Postkutschen - Martin Walsers Portrait eines alten Dichters
Von Susanne Alberti (2008-03-13)
Zugegeben, ich hatte mich vor der Lektüre dieses Romans gefürchtet. Zum vierten Mal wollte ich mich jener Faszination, die Beziehungen mit erheblichem Altersunterschied zwischen den Partnern bei unserem letzten großen deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts hervorzurufen vermag, nicht aussetzen.
Bereits Der Lebenslauf der Liebe und Der Augenblick der Liebe hatten meine Bewunderung des nach wie vor glänzenden Stilisten Martin Walser erheblich schrumpfen lassen. Angstblüte hatte ihr schließlich den Todesstoß versetzt. Diese Geschichte eines Anlageberaters, der mit Millionen jongliert wie Rastelli mit seinen bunten Bällen, erschien mir noch unglaubwürdiger als die vorherigen.
Solche Männer lassen sich nicht von den Reizen einer jungen Schönheit aus dem Ruhrgebiet dazu bewegen, das zweifelhafte Filmprojekt eines windigen Regisseurs zu finanzieren. Auch wenn sie ihre Ehefrauen oft nach Strich und Faden hintergehen - ihrem Kapital bleiben Finanzstrategen gewöhnlich treu, denn dem gehört ihre einzige Liebe.
Sogar Klaus Manns Schulmeister Rath aus Professor Unrath würde heute seinen Beamtenstatus nicht für eine Tingeltangel-Tänzerin an den Nagel hängen. Er wendete sich entweder einer - möglichst volljährigen - Abiturientin zu oder, besser noch, trüge seine Erektionen in einen seiner Besoldungsgruppe entsprechenden Club.
Nein, auf Walsers mir hoffnungslos antiquiert erscheinenden Vorstellungen von Liebe wollte ich mich nie wieder einlassen. Wenn ich es dennoch wagte, so wider alle Vernunft, was mir einmal mehr beweist, daß man die Hoffnung nie aufgeben sollte.
Walsers Roman um den zweiundsiebzigjährigen Goethe und dessen auf die neunzehnjährige Internatssschülerin Ulrike von Levetzow zielendes Begehren ist ein höchst gelungenes Meisterstück, wie es vermutlich nicht nur ich von einem Angehörigen der von der Gruppe 47 in den deutschen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit gehebelten Viererbande von Großschriftstellern - Grass, Walser, Enzensberger, Lenz - kaum noch erwartet hätte.
Allein die Absicht, in die zwar inzwischen ziemlich ausgetrockenen und verstaubten, aber noch immer riesig erscheinenden Stiefel des deutschen Geheimrats und Nationaldichters Johann Wolfgang von Goethe steigen zu wollen, erscheint stets ein wenig vermessen.
Um so bewunderungswerter: Martin Walser gelang dieses Unterfangen derart überzeugend, daß man seine drei zuvor durchaus nicht geglückten Romane zum Thema Altersunterschied zwischen Liebenden für Fingerübungen halten möchte, mit denen er sich auf das vorliegende großartige späte Werk vorbereitete.
Selbstverständlich hatten sich vor ihm andere für Goethes Johannistrieb interessiert. Doch Thomas Mann hatte sich schließlich lieber GoethesLotte zugewandt und das unerfüllte Begehren eines alternden Bildungsbürgers lieber in seinem Roman Tod in Venedig thematisiert.
Die sensible Chronistin Sigrid Damm wandte sich nach Christiane sowie Ottilie Goethe in einer ihrer Recherchen, in Goethes letzte Reise auch Ulrike von Levetzow zu. Ihre junge, wohlbehütete Adlige erscheint mir so blaß wie auf dem bekannten Pastellgemälde aus dem Jahre 1821. Eckart Henscheid läßt sich in seinem Traktat Goethe unter Frauen die junge Ulrike ebensowenig entgehen, wie Tilman Jens in seiner Schmähschrift Goethes Opfer.
Keiner der zahlreichen Goethe-Biografen kam an ihr vorbei, die den Weimarer Hofdichter - wie nicht wenige Frauen vor ihr - zu einem literarischen Werk anregte. Martin Walser vollbrachte das große Kunststück, Fräulein von Levetzow zu Goethes Objekt der Begierde in einem, allerdings von einigen Küssen abgesehen, weitgehend jugendfreien 'Letzten Tango in Marienbad' zu stilisieren.
Sexuell hatte sich zwischen den beiden nichts ereignet. Bei seinen damals für Angehörige der oberen Gesellschaftsschichten obglitarorischen Kuraufenthalten begegnete der bei Gebildeten weltberühmte Dichter 1821 bis 1823 mehrfach in Marienbad der verwitweten Gräfin Frau von Levetzow und ihren Töchtern Bertha, Amalie und Ulrike.
Er wurde zum geschätzten Freund der Familie. Er verbrachte besonders viel Zeit mit Ulrike, die ihn bewunderte. Er ließ seinen Freund, den Weimarer Herzog Karl August, bei der Mutter um Ulrikes Hand anhalten. Wie ihre kluge Tochter hielt auch die Mutter diesen Heiratsantrag anfangs für einen Witz. Sobald man begriffen hatte, daß er ernst gemeint war, reiste die Familie Levetzow aus Marienbad ab. Goethe, längst so berühmt, daß sein Kammerdiener jene Haare verkaufen konnte, die seinem Herrn vom Kopfe fielen, blieb verletzt zurück und geriet in einen depressiven Zustand.
Ein aufregender, dramatischer Plot? Vielleicht für einen dünnen Harlekin-Roman, gut geeignet für die Lektüre einer gelangweilten Frau beim Friseur. Martin Walser verfaßte einen beeindruckenden Roman aus diesen eher trivialen Versatzstücken und beweist, was er, mit 80 Jahren, wieder voll auf der Höhe seiner Schaffenskraft zu leisten vermag.
Das beginnt mit ironischen Szenen aus dem Kurleben der - damals noch gebildeten - Oberschicht der Gesellschaft, wo man im Salon und auf der Kurpromenade gepflegt parliert. Konversation über Steine, Pflanzen und Goethes umstrittene, inzwischen im Abfalleimer der Physik beerdigte Farbenlehre. Höfliches Plaudern des alten Goethe mit seinem ihn bewundernden Anhängerklub, in den gelungensten Passagen so überzeugend, daß man glauben könnte, Walser blicke Thomas Mann über die Schulter.
Behutsam nähert sich Goethe der jungen Ulrike, die Walser auf Goethes Augenhöhe hebt. Die Neunzehnjährige erscheint dem Alten ebenbürtig, wenn nicht mitunter sogar überlegen, was Walser in Interviews damit zu begründen versucht, der gebildete Geheimrat hätte sich nie und nimmer in eine dumme junge Gans verliebt.
Tatsächlich nicht? War sein "Küchen- und Bettschatz" Christiane Vulpius, mit der er fast zwanzig Jahre in recht wilder Ehe zusammenlebte, bevor er sie schließlich heiratete, etwa gebildet? Mit den besten Dialogen, die ich seit langem gelesen habe, kommen sich der alte Großmeister und die junge Internatsschülerin näher, finden zu spielerischem Geplänkel, das irgendwann zu einem keuschen Kuß führt.
Einfach wäre es, die bewundernde Liebe der jungen Frau darauf zurückführen zu wollen, daß sie den Vater sehr früh verlor. Schwieriger zu übersehen, daß der ihr weit überlegene, alt gewordene Goethe eine gerade erwachende junge Blüte mehr knicken und wegwerfen würde, stünden dem nicht gesellschaftliche Normen, die Wachsamkeit der Mutter Ulrikes und seine Furcht vor den Folgen entgegen.
Da war der junge Goethe noch ein ganz anderer Kerl! Als seine Geliebte Friederike Brion, eine Pfarrerstochter, erkrankte, verließ er sie unverzüglich. Und das, obwohl sie, jedenfalls nach Ansicht mehrerer Goethe-Biographen, von ihm schwanger geworden war.
Ja, wenn die Wölfe grau werden und ihnen die Zähne ausfallen, werden sie immer ungefährlicher. Das weiß der achtzigjährige Walser, da kennt er sich offensichtlich gut aus. Hier wird die Erkundung der Wahrnehmungen und Empfindungen des alten Goethes zur Untersuchung der Befindlichkeit Martin Walsers. Der Held und sein Autor scheinen zu verschmelzen. Unmöglich hier herauszufinden, wo Goethe aufhört und Walser anfängt.
Eine kurze Szene, in der Goethe - für einen Kostümball wie der junge Werther gekleidet - auf der Straße hinfällt, einen Moment hilflos und verletzt auf dem Rücken liegt, werde ich lange nicht vergessen. Wie die mit übertriebenem Pathos ausgestalteten Schilderungen seiner unbegründeten Eifersucht oder seines seelischen Zustandes nach der Trennung von Ulrike, die er mit seiner Marienbader Elegie aufzuarbeiten versuchte.
Da wird ein alter narzißtischer Egomane, der unzählige Frauen verließ, zum erstenmal seit seiner Studentenzeit selber verlassen und der weltberühmte Dichter verwandelt sich in einen Jammerlappen, der sich verzweifelt die Augen mit den Fäusten reibt und ja, tatsächlich, weint.
Im dritten Teil seines Romans verschmilzt Walser gänzlich mit seinem Protagonisten. Er erfindet Briefe Goethes an Ulrike, wie der Weimarer sie geschrieben haben könnte.In seiner Angstblüte irritierte ein solcher Bruch der Form. Damals legte Walser Passagen in der Art eines Filmdrehbuchs an. Diesmal funktioniert der Wechsel der Erzählsperspektive. Sie erleichtert die Darstellung der Empfindungen Goethes erheblich.
Mit Recht wird dieser Roman von der Kritik gefeiert wie ein neues Werk Goethes zu dessen besten Zeiten. Sogar der deutsche Bundespräsident besuchte eine Lesung Walsers, wie Herzog Carl August von Sachsen-Weimar vor zweihundert Jahren jedes große neue Werk Goethes gefeierthatte.
Unsere Literaturkritik bewundert diesen Roman, auch wenn der eine oder andere Beckmesser nicht darauf verzichten kann, dem Autor genüßlich zwei oder drei unrichtige Jahreszahlen vorzuhalten, die ihm in diesen großartigen Roman gerieten. Na und? Martin Walser hat einen Roman geschrieben. Keine Dokumentation.
Einen der wichtigsten Sätze Walsers hat die Kritik dafür übersehen: Die Vermutung, eines der wichtigsten Gebote des Herrn sei bei der Aufregung am Berg Sinai übersehen worden und in Vergessenheit geraten. Ein gewissermaßen Elftes Gebot, das da lautete: Du sollst nicht lieben.
Sollte diese Einsicht das Ergebnis von Walsers beständiger Auseinandersetzung mit der Beziehung der beiden Geschlechter sein? Da wäre allerdings noch die Frage zu klären, was Goethe unter Liebe verstand und Walser darunter versteht.
So sehr Goethe diese Ulrike zu lieben vermutet - ich kann mir nicht helfen, für mich begehrt er sie. Sind Lieben und Begehren für Männer austauschbare Begriffe? Was bleibt, ist ein höchst gelungener Roman, dem ich viele Leser wünsche, auch wenn er in unserer Zeit des allgemeinen kulturellen Niedergangs derzeit erst auf Platz 11 der Spiegel-Bestsellerliste angelangt ist.
Martin Walser: Ein liebender Mann. Roman. Hardcover, 288 S., ISBN: 978-3-49807-363-3, Rowohlt. Reinbek b. Hamburg, Februar 2008.
© Susanne Alberti
© GeoWis (2008-03-13)
Susanne Alberti hat 2003 den Roman Fausts Gretchen, ISBN: 3-203-75006-6, veröffentlicht.