Wasserlilie versus Vogelnest
Die Architektur zu den diesjährigen Olympischen Spielen in Beijing zeitigt die Vorboten zum Stadtentwicklungskonzept Beijing 2050. Eines der futuristischen Leuchtturmprojekte ist das Olympiastadion.
Von Uwe Goerlitz (2008-04-15)
Die größten Vogelnester bauen Albatrosse, Kondore, einige Storch-, Reiher- und Adlerarten. Das größte von Menschenhand erbaute Vogelnest ist das Olympiastadion in Beijing, offiziell National Stadium genannt, im anglophilen Volksmund 'Bird's Nest', zu deutsch Vogelnest.
Etwa eine halbe Milliarde Dollar teuer, 330 Meter lang, 220 Meter breit und knapp 70 Meter hoch, bietet es Platz für 91.000 Menschen. Erbaut wurde das Nest nach den unter dem von der ARUP Group in einem Konsortium konzentrierten Architekturbüros und den daraus entstandenen Entwürfen, wobei der der schweizer Architekten Herzog & de Meuren am Ende gewann. Sechs Jahre ist das her.
80.-100.000 Zuschauer sollten während der Olympiade darin Platz finden, lautete eine der Vorgaben, an die sich nicht alle Architekten hielten. Entwürfe mit einem Fassungsvermögen zwischen 47.000 und 200.000 waren eingereicht worden.
Eine aus Sicht der ARUP Group, die vorwiegend als Realisierer auftritt, letztlich aufgegangene Strategie. Der Multiplaner unterhält weltweit 86 Büros, darunter 7 in China, und beschäftigt laut eigenen Angaben 9000 Leute, von denen 3500 in Großbritannien arbeiten.
Darunter nicht nur Planer, Architekten und Designer. Auch Ingenieure und vor allem Berater sind für das Unternehmen tätig. Nach Firmenangaben ist er zur Zeit in etwa 10000 Projekten tätig.
ARUP arbeitete für das Bird's Nest mit den Baslern Jacques Herzog & Pierre de Meuren genauso zusammen wie mit der China Architecture Design & Research Group. 13 Vorschläge wurden von der Pekinger Stadtplanungsbehörde (BMCUP) in die engere Wahl einbezogen, drei in die letzte Runde.
ARUP und mit ihm kooperierende Architekten entwarfen die Allianz Arena zu München (Herzog & de Meuren), die zur der Fußballweltmeisterschaft 2006 eingeweiht worden war. Ebenso bauten sie das Fußballstadion von Manchester City oder das neue Stadion in Zürich für die Fußball-Europameisterschaft 2008.
Anfang des Jahres war von ihnen in einem Joint Venture nach den vom britischen Büro Foster & Partners eingereichten Entwürfen das Terminal 3 des Pekinger Flughafens fertiggestellt worden, das am 29. Februar eröffnet wurde.
Ob diese verdichtete Wettbewerbssituation mit mangelnder Auswahl an Entwürfen und Realisierern gleichzusetzen ist, muß nicht zwingend gefolgert werden. Die Marktmacht hinsichtlich kreativen Angebots der ARUP Group ist allerdings frappierend.
Doch der schließlich zur Realisierung geratene Entwurf ist nicht der neuzeitlich allerletzte Schrei globalen architektonischen Kreativismus'.
Zumal es durchaus ansprechende Konkurrenzentwürfe gab, selbst wenn manche aus dem Konsortium stammten. So der Entwurf mit verschließbarem Dach, ein Blatt symbolisierend, dessen beide Hälften - Flügel - elegant in die Enden auslaufen (siehe Titelbild). 200.000 Menschen sollten hier Platz finden. Er kam nicht unter die letzten Drei.
Auch der Entwurf mit gigantischer Dachterrasse schaffte es nicht bis dahin. Hätte er den Wettbewerb gewonnen, stünde in Beijing nun das weltweit erste Olympiastadion mit einer unverbauten Aussicht gen Himmel.
Die chinesischen Entscheider, damals wesentlich aus Fachleuten und Honoratioren der hauptstädtischen Stadtplanungsbehörde bestehend, votierten dennoch für das 'Vogelnest'.
Wohl auch, weil das geschwungene Großgestell mit Innenraum tatsächlich an ein in einer mächtigen Baumkrone oder einem Felsvorsprung plaziertes Großvogelnest erinnert.
Von der Allianz Arena in München läßt sich dies nicht behaupten, unabhängig davon, daß es eines der architektonischen Highlights deutscher Sportarenen ist.
Trotz der international meist hymnisch ausgefallenen Belobigungen für den Siegerentwurf kann nicht unerkannt bleiben, daß offenbar seitens des ARUP-Konsortiums auf damals vorhandene architektonische Gerüste, sozusagen Matrixen, Bezug genommen worden war, die in sodann leicht abgewandelter Form zum Erfolg führten.
Die nur kurz aufgeflammte Diskussion zu Beginn dieses Jahres - angestoßen vom Düsseldorfer Architekten Ingenhoven -, in der es um die Frage ging, inwieweit deutsche Architekten mit ihren Entwürfen zu Monumentalbauten undemokratischen Regimen zu Ansehen verhülfen, erlebt im Zuge des populär gewordenen China-Bashings neuen Auftrieb.
Diesmal aus der Schweiz. In der Online-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) macht sich Roman Hollenstein in seinem Beitrag Das Dilemma westlicher Architekten Gedanken, die sich andere schon lange vor ihm gemacht hatten. Weshalb Hollenstein hier ein wenig rückständig wirkt.
So schwadroniert er von "einem Heer schlechtbezahlter Wanderarbeiter", die die Bauten für die Olympischen Spiele in Beijing hochzögen. Das tun sie, ohne Zweifel.
Daß die rund 200 Millionen Wanderarbeiter, die sich in Chinas Bauwirtschaft verdingen, überall im Land unterwegs sind und hunderttausende von Wohnsiedlungen hochziehen, klammert Hollenstein aus.
Genauso klammert er aus, daß sich die Wanderarbeiter, die wesentlich aus dem schier unerschöpflichen Reservoir junger Wilder, Junggesellen und nicht mehr ganz so junger Familienväter aus den ländlichen Regionen des großen Reichs der Mitte stammen, auf den Weg in die Metropolen machen, weil sie auf dem Land kein finanzielles - und manchmal auch kein kulturelles - Auskommen mehr finden.
Hollenstein hätte das Kind auch beim Namen nennen können: Die Peripherien leiden unter den Zentren. Die Armen unter den Reichen. Das Land unter seinem Regime.
Und überhaupt ist das Zentrum an allem Schuld. So gesehen auch daran, daß es nun neben der Münchner Allianz Arena, das einem gigantischen Donut oder Spritzring gleicht, das größte Vogelnest der Welt in Beijing gibt.
Ja, so ist das wohl zwischen Stadt und Land, zwischen Haben und Nichthaben, zwischen Zentrum und Peripherie.
Die Stadt frißt das Land. Basel, Zürich, Berlin, Dortmund, Köln, Beijing - am meisten aber US-amerikanische und Großstädte in den Entwicklungsländern - haben dies bisher unter Beweis gestellt. Während deutsche Großstädte hier noch formal vorgingen - zum Beispiel durch Gebietsreformen -, woran sich auch Austria und die Schweiz orientierten, war die Volksrepublik China ganz klar vorwiegend direktiv vorgegangen.
Daß jedoch jedesmal, wenn städtebauliche Entscheidungen in irgendeiner Metropole - oder untergeordneten Stadt - Chinas anstehen, die politisch-architektonische Allweisheit renommierter Medien herausgekramt wird, kann der Sache nicht gerecht werden.
Schon gar nicht vor dem Hintergrund kultureller Tradition des bevölkerungsreichsten Staates des Globus. Manche an China gerichtete Kolossalkritik aus westlichen oder dem Westen zugeneigten Ländern könnte mitunter nur wie ein Mückenstich auf Elephantenhaut wirken.
Insofern kann man über die verwirktlichte Wahl des Entwurfs zum zunächst als Olympia-Stadion apostrophierten National Stadium zwar trefflich geteilter Meinung sein. Das Vogelnest aber ist fertig. Ab August werden darin Eier gelegt. Und so mancher Athlet wird von der Aura der Veranstaltung sicherlich fasziniert sein.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2008-04-15)
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