Ohne Bildung geht nichts
Seit Monaten wird weltweit über die Finanz- und Wirtschaftskrise und deren Ursachen debattiert, ohne sie in der Tiefe zu reflektieren. Ein Buch von Nassim Nicholas Taleb hält Handlungsstrategien bereit.
Von Uwe Goerlitz (2008-12-14)
Für wenige Dollar oder Euro hätten sich jene, die mit Milliarden jonglieren, über die tiefere Struktur des - subjektiven - Wertpapierhandels schon vor Jahren kurzweilig informieren können. Einige haben es getan und damit Nassim Nicholas Talebs erstes massentaugliches Buch zu einem Bestseller avancieren lassen.
Indes, man darf annehmen, dass Lesen - und damit einhergehende (Weiter-)Bildung - abseits wirtschafts- und finanzwissenschaftlicher Literatur nicht zu den herausragenden Tugenden von institutionalisierten Kapitaljongleuren und deren freiberuflichen oder angestellten Einser-MBA-lern zu gehören scheint, zumal das Gelesene und die damit erworbene Erkenntnis - betrachtet man den Niedergang der Finanzwirtschaft - nicht zu kontemplativen Handeln geführt hat.
Zu diesem Teilfazit kann man gelangen, wenn man Nassim Nicholas Taleb liest. Freilich nicht lediglich sein aktuelles Buch The Black Swan, das dieser Tage bei Hanser (München) auf Deutsch erschien.
Es ist ein guter Einstieg in das Paradigma und gleichsame Phänomen vom Schwarzen Schwan, zumal es sich für Literaturkritiker trefflich auf eine allgemein verständliche Metapher reduzieren lässt - wie dies am vergangenen Sonntag in der ARD-Literaturkritiksendung 'Auf den Punkt' auch Volker Herles gelang. Induktion trifft Deduktion in einer Person vice versa, ließe es sich sowohl auf das Anliegen des Autors, als auch auf das des Rezensenten Herles verkürzen.
Herles brachte in seiner mageren Besprechung eine der Kernthesen von The Black Swan - analog des englischsprachigen Originals von glücklichen Truthähnen, die gehegt, gepflegt, gefüttert und gestopft werden -, laut Übersetzer die Weihnachtsgänse. Beide, Truthahn wie Weihnachtsgans, erleiden das gleiche Glück und Schicksal.
Erst werden sie gehegt, gepflegt, gefüttert, gestopft und vertrauen ihren Hegern, Pflegern, Fütterern und Stopfern, dann landen sie - unverhofft - als Braten auf dem Teller ihrer übergeordneten Macht: auf dem der Heger, Pfleger, Fütterer, Stopfer und Verbraucher. Der Truthahn zu Thanksgiving, die Gans zu Weihnachten.
Es scheint, als hätten die Verlage, die The Black Swan nun publierzieren, den Autor gedrängt, jetzt mal an die Kasse zu denken, obwohl Nassim Nicholas Taleb mit Fooled by Randomness - The Role of Chance in Life and in the Markets, erschienen zuerst in den USA im Jahr 2001 beim eher unbekannten Verlag Texere, alles Wesentliche zur Psychologie, Philosophie und Struktur des Scheiterns und Gewinnens als Wertpapierhändler gesagt hatte.
Im englischsprachigen Raum, vor allem in den USA, war Fooled by Randomness ein Bestseller. Taleb kassierte Lob von berufener Seite - "Eines der klügsten Bücher aller Zeit" (Fortune Magazine), "Unterhaltsam (...) ausgezeichnet und zum Nachdenken auffordernd" (Financial Times) -, erreichte aber ausgerechnet jene Gruppen nicht, denen er für negative Ereignisse an Wertpapierbörsen Instrumente und Bildungstiefe an die Hand geben will.
Manche mögen sein Buch vielleicht gelesen haben, aber ob sie auch verstanden, worum es darin geht, muss in Retrospektive angesichts der seit Monaten aktuellen globalen Finanz- und daraus resultierenden Wirtschaftskrise bezweifelt werden dürfen. Das Black Swan Problem werden alle jene Trader ignoriert haben, die dem Irrglauben aufsaßen, es gäbe nur weiße Schwäne.
Fooled by Randomness - The Hidden Role of Chance in Life and in the Markets, der Titel sträflich unglücklich übersetzt von Patricia Künzel mit Narren des Zufalls- Die verborgene Rolle des Glücks an den Finanzmärkten und im Rest des Lebens, wobei es doch heißen sollte, ja müsste: Genarrt vom Zufall - Die verborgene Rolle des Zufalls im Leben und in den Märkten, setzt sich ab vom Mainstream der Finanz- und Wirtschaftsliteratur.
Taleb, durch und durch Kapitalist nach Marx'scher Kritik, einer also, der den freien Markt unbändig liebt, stellt in Fooled by Randomness nicht etwa die Systemfrage. Er bemängelt auf ordentliche Weise das Handeln ungebildeter Kollegen seines Berufsstandes, verachtet deren Gier und lässt deutlich durchblicken, dass es persönlich wie volkswirtschaftlich in hohem Maße kontraproduktiv sei, kanalisiert und auf beträchtlichem Niveau unklug zu handeln, getreu der in einem Lied des verstorbenen Musikers Frank Zappa vorkommenden Textzeile: "We're only in it for the Money".
Der im Libanon geborene Autor stellt uns exemplarisch einige Typen vor - Typen, wie er sie während seiner langjährigen Tätigkeit als Wertpapierhändler kennenlernte - und vergleicht sowohl deren Handeln im Job, als auch deren private Situationen miteinander, wobei er feine Psychogramme dieser Figuren zeichnet.
Nero Tulip nennt er jenen Trader, der seinen Job wegen des Jobs ernst nimmt, sich seinem Arbeitgeber, seinen Anlegern und dann erst sich selbst verpflichtet sieht. Nero ist unprätentiös, ein eher konservativer Akteur im Finanzgeschäft, der auf sichere, überschaubare Anlagegeschäfte setzt, Staatsanleihen und ähnliche Papiere bevorzugt. Die Renditen sind nicht überragend, aber sie überragen in der Regel die Inflation noch deutlich. Kurz: Nero ist das, was man in diesen Kreisen einen Langweiler, vielleicht auch einen Loser nennt.
Nero hat eine akademische Ausbildung und verfügt über eine in die Breite wie in die Tiefe gehende Bildung. Er wohnt bürgerlich, nicht mondän, ist verheiratet, hat alles, was er besitzt - Eigenheim, Auto, Bibliothek - bezahlt. Es gehört ihm. Er könnte sich glücklich schätzen. Doch er ist es nach Taleb erst mal nicht. Denn er hat einen Nachbarn, der in der gleichen Branche tätig ist - und dies viel erfolgreicher als Nero.
Während Nero bescheidene, aber stetige Gewinne für die Kunden seines Arbeitgebers, für diesen und für sich bei einem ordentlichen Grundgehalt erzielt, Zeit für Kultur und Mitmenschen hat, fährt sein Nachbar John the High-Yielder das Zehnfache an Provision und Gehalt ein.
John, aus Neros Sicht ein wahres Alphamännchen - aus weiblicher Sicht ebenso -, ist ein wahrer Überflieger, leistet sich einen Fuhrpark exklusiver Limousinen vorzugsweise europäischer Herkunft und beansprucht sämtliche Atemluft im Karree der Nachbarschaft für sich, und er geriert sich als arroganter Kotzbrocken getreu des in den letzten Jahren in deutschen Sendern ausgestrahlten Werbespots "Meine Frau, mein Haus, meine Yacht, mein (...)".
Taleb legt auf süffisante Weise dar, worin sich die beiden Männer unterscheiden, ohne seinen Text und die darin enthaltenen Analysen darauf zu reduzieren. Beide Männer kennen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, interpretieren sie jedoch unterschiedlich und handeln folglich ebenso konträr.
Der Autor, der seine Abneigung gegen die Johns dieser Welt, die Überflieger mit Einser-MBA in der Tasche, die 'Masters of the Universe', nicht versteckt, hält das Lernen aus vergangenen Wirtschafts- und Finanzkrisen nur für bedingt tauglich, damit gegen künftige Krisen dieser Art gewappnet zu sein. Tauglicher erscheint es ihm, sich mit scholastischen Techniken, Methoden und der Philosophie zu beschäftigen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.
Vor allem einige Teilbereiche der Philosophie sind dem Autor ein Anliegen, und so bemüht er manche Kapazität dieser Disziplin, um nicht nur das Black-Swan-Problem zu ergründen oder zu verifizieren, sondern auch, um gelungene oder misslungene Handlungsstrategien darzulegen. Hierbei hebt er, wie der Titel des Buches vermuten lässt, auf Kasualität ab.
Zunächst allerdings widmet er sich salopp einigen Vertretern der Deduktion, wie etwa den Großbriten Francis Bacon (1561-1626) und David Hume (1711-76). Bacon und Hume waren Verfechter der Empirie, der sie höchste Aufmerksamkeit schenkten. Hume befand, man könne von Besonderen nicht aufs Allgemeine ableiten (Induktion). Schon gar nicht auf Künftiges daraus schließen.
Taleb bescheinigt Hume zwar, der erste moderne Epistemologe, der erste moderne Lernende gewesen zu sein, und jener, der im Kern den Johns dieser Welt ein früher Warner gewesen war - und wenn die Johns-the-High-Yielders Hume je gelesen hätten, wäre dies für sie ein Erkenntnisgewinn gewesen -, aber zu einem frühen Star heute noch gültiger Handlungsmuster erhebt er ihn nicht.
Recht anschaulich - auch anhand seiner Beschreibungen der gewählten Figuren und deren soziopathischen wie soziomorph geprägten Handlungsmustern - betreibt Taleb auf den ersten Blick eine Art Name-dropping quer durch die klassischen, längst verstorbenen Vertreter der Mathematik, Physik, Logik und Philosophie, doch auf den zweiten stets im Kontext zu seiner Branche, dem Wertpapierhandel.
Karl Popper (1902-94) - Taleb nennt ihn "Sir Karl" -, den der virtuose Autor verehrt, brachte ihm ähnliche Erleuchtung wie einst dem etwa gegen die Bank of England angetretenen Superspekulanten George Soros (*1930)¹; ebenso Karneades von Kyrene (ca. 213- 128 v. Chr.; Griechenland). Letzterer gehörte zu den Vertretern des Skeptizismus, einer philosophischen Denkweise, derzufolge es keine absolute Wahrheit gebe.
Für den Zweifel als Prinzip des Denkens, wie es die Skeptiker teils verlangen, insbesondere dann, wenn es um vermeintliche Wahrheiten geht, scheint Taleb eine Schwäche zu besitzen, sieht er in dieser philosophischen Ausrichtung gar ein Instrument für Trader, indem er die "Unsicherheit des Wissens" (Karneades) als Handlungsorientierung vorstellt.
Folgten alle Trader und maßgeblichen Wirtschaftsakteure Talebs Haltung und dem von ihm vorgestellten Handwerkszeug, müsste man annehmen, es dürfte kaum Finanz- oder Wirtschaftskrisen geben. Doch weit gefehlt, wie der Autor klarstellt und eine weitere Unbekannte seiner bereits umfangreichen Gleichung ins Spiel bringt, der er enorme Bedeutung beimisst: der persönlichen Erfahrung, der Vita und den Lebensumständen des Traders und - wie bereits bei Nero und John - das psychosoziale Moment.
Der multilinguale Autor, der - wie es heißt - fünf Sprachen spricht und weitere fünf lesen kann, darunter Aramäisch, Hebräisch und Griechisch, ist neben seinen philosophischen Einlassungen auch ein Meister der Anekdote mit Biss und stellt uns hierzu den New Yorker Anwalt Marc vor, der zur oberen Mittelschicht gehört, meist bis in die späten Abendstunden arbeitet und 500.000 Dollar pro Jahr macht. Seine Gattin, Janet, betrachtet ihn dennoch als Loser.
Das, worüber sich ein Großteil der auf dem Globus lebenden Gattinnen freuen würde, nämlich dass ihr Kerl 500.000 Dollar nach Hause bringt, zähle laut Taleb für Janet kaum. Sie empfindet ihren sozialen Status ganz anders als eben dieser Großteil ihn wohl empfände. Der Grund: das Paar wohnt unter New York Citys Upper Class in der Park Avenue, und damit für Marcs Gehaltsklasse in der falschen Gegend. Beinahe jeder dort hat ein Mehrfaches von Marcs Einkommen in der Lohntüte.
Wie uns Taleb erzählt, fühlt sich Janet äußerst unwohl, wenn ihre Nachbarinnen prahlen, etwa nach dem Motto: mein Schmuck, mein Auto, mein Künstler, mein Pedikör, mein Schönheitschirurg, mein Gigolo, mein ... Man kann es sich vorstellen. Keine neue Erkenntnis, die uns der Autor an diesem Beispiel vermittelt, dennoch notwendig, um zu zeigen, was bei Marc und Janet falsch läuft. Janet will keinen Loser.
Marc könnte sich unter diesem falsch eingenordeten Sozialprestige dazu veranlasst sehen - beispielsweise um mehr Geld zu verdienen, um seine Ehe zu retten -, Unethisches, gar Kriminelles, auf jeden Fall Risikohaftes zu tun und dabei induktiv vorgehen. Machten es nicht viele seiner Kollegen so? Das Recht beugen, Zeugenaussagen kaufen, Zeugen beeinflussen? Und? Fällt es auf? Was, wenn Marc nicht Anwalt, sondern Trader wäre?
Natürlich nicht. Normalerweise. Kein Black Swan in Sichtweite. Dennoch ist er allgegenwärtig. Denn der Zufall, und die Wahrscheinlichkeit, lassen ihn früher oder später präsent werden. Das ist der Rote Faden in Talebs Buch. Es ist eines, das die Prüfungskommissionen Auszubildenden aller kaufmännischen und Finanzberufe zur Pflichtlektüre verordnen sollten. Und, wie eingangs erwähnt, nicht nur diesen.
Übrigens: John steht am Ende pleite und deprimiert da. Nero hat alles richtig gemacht und widmet sich entspannt seinen Hobbys, zu denen vor allem Lesen gehört.
¹ George Soros' Wette gegen das Englische Pfund fand im September 1992 statt. Soros wettete im Juni 1993 auch gegen die Deutsche Mark zugunsten des Französischen Franken. Seine Wette gegen das Pfund brachte ihm viel ein, die gegen die D-Mark verlor er. 1997 versuchte er sein Glück mit Malaysia. Dort gilt er heute als Unperson - obwohl man ihn 2006 zu einer Veranstaltung einreisen ließ -, weil er die damalige Finanzkrise des Landes mitverschuldet haben soll. Soros bezeichnet sich als Philanthrop und wird in einschlägigen Medien und Lexika auch als solcher geführt.
Webseite von Nassim Nicholas Taleb >>
Nassim Nicholas Taleb: Fooled by Randomness. The Hidden Role of Chance in Life and in the Markets. Taschenbuchausgabe (Englisch), 318 S., ISBN 978-0-141-03274-0, Penguin Books, London, 2007. Erhältlich in gut sortierten deutschen Buchhandlungen.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2008-12-14)
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