Eurozentrierte, selektive Länderkunde
Wer sich für den Beruf Reiseverkehrskauffrau/-mann entscheidet, kommt an Renate Ortlepps Handbuch Geographie für Touristiker kaum vorbei. Was leistet es?
Von Uwe Goerlitz (2009-06-12)
Der 23 Seiten umfassende Rahmenlehrplan für die Ausbildung zur Reiseverkehrkauffrau bzw. zum Reiseverkehrskaufmann, der gemäß des Beschlusses der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 20.01.2005 den schulischen Ausbildungsverlauf, die Lernfelder und den für sie vorgesehenen Zeitrahmen (insgesamt 880 Stunden in drei Lehrjahren) vorgibt, bildet - fachbezogen - die Grundlage für das vorliegende Handbuch.
Daher lässt sich der Autorin bis zu einem gewissen Grad nur schwer vorwerfen, dass sie mehr als zwei Drittel des 660 Seiten umfassenden, einskommavier Kilo schweren, in dritter, "komplett aktualisierter Auflage" vorliegenden Buches für Europa aufwendet. Dem Rest der touristischen Welt widmet sie knapp 200 Seiten, wobei dem amerikanisch-karibischen Raum 60 Seiten gewährt werden, Afrika 37, Asien 72 und Australien mit Ozeanien magere drei. Auf den verbleibenden Seiten finden sich Literaturverzeichnis und Index.
Neben einer kurzen Einführung zu Gradnetz, Karten, Maßstab, Klimazonen und globalem Zeitsystem werden die jedem Land bzw. jeder Region vorangestellten Piktogramme informativ erläutert. Bedingt durch den Rahmenlehrplan der KMK ähnelt der Aufbau des Buches allerdings einer anti-alphabetischen Länderkunde und behandelt als erstes touristische Zielgebiete in Europa, beginnend mit Spanien.
Dabei sind die übergeordneten geographischen Regionen - etwa der Mittelmeerraum -, den sich in ihnen befindenden Zielgebieten einführend vorangestellt und geben einen knappen, fast lexikalischen Überblick zu Naturraum, Vegetation, Klima und Geschichte. Hierzu, wie auch zu den Zielländern, wartet die Autorin mit einer Fülle von geographischen Kennzahlen und Daten auf, die sie - abgesehen von Jahreszahlen - vielfach journalistisch salopp darbietet ("Die knapp 132.000 qkm große Republik Griechenland"; "Graubünden ist mit gut 7.100 qkm der größte Kanton der Schweiz"; usw).
Jedes Zielgebietskapitel beginnt mit zwei, drei zu beantwortenden Szenarien aus der Praxis des Reisebüroalltags. Weshalb die Autorin diese Szenarien an den Anfang der erst noch zu lesenden Kapitel stellt, wird nicht erläutert. Mehr Sinn machte es, diese ans Ende des Kapitels zu platzieren, um das gerade Gelesene oder Gelernte in die Beantwortung der Fragestellungen einfließen zu lassen.
Ein weiterer Mangel ist der Verzicht auf Karten und Tabellen im Buch, die es dem Leser erlaubten, sich einen schnellen Überblick über die geographische Lage und die wichtigsten Kennzahlen des Zielgebietes zu verschaffen. Zwar gehört ein 52-seitiges Beiheft mit Karten und Klimatabellen zum Lieferumfang, deren Gebrauchswert ist aber wenig überzeugend.
So datieren die Klimatabellen aus dem Jahr 1982 und stammen vorwiegend aus Katalogen von Reiseveranstaltern und aus Reiseführern, womit die Autorin ihrer Linie treu bleibt, kaum eine wissenschaftliche Quelle für die Zusammenstellung dieses Handbuchs verwendet zu haben. Demzufolge sind auch die abgebildeten Karten in diesem Beiheft nur marginal nützlich. Weder finden sich auf ihnen Legenden noch Verkehrswege oder Kartenmaßstabs- und Entfernungsangaben. Von einem Handbuch mit dem anspruchsvollen Titel Geographie für Touristiker darf man sicherlich mehr erwarten, berücksichtigt man die Zielgruppe.
Diese verfügt in der Regel über einen mittleren bis hohen Schulabschluß (Mittlere Reife, fachbezogenes Abitur, Hochschulreife, Bachelor) und notwendigerweise geographische Kenntnisse, kann Kataloge, Atlanten und Reiseführer lesen und verstehen, sowie mit dem Internet umgehen. Weniger geläufig dürften ihr Namen, Kürzel und geographische Angaben zu internationalen Flughäfen und Hubs sein. Auch Kenntnisse über wichtige Luft-, Schiffs- und Straßenverkehrsrouten oder Hochgeschwindigkeitsnetze der jeweiligen Länder können bei der Zielgruppe nicht vorausgesetzt werden.
In Ortlepps Handbuch sucht der interessierte Leser vergeblich nach derartigen Informationen. Dabei wäre ausreichend Platz gewesen, wenn die Autorin sich eines geographischen Prinzips bedient hätte, wonach anstelle einer umfangreichen Verwendung von Zahlen, Daten und Fakten innerhalb eines Textes besser eine Karte oder Tabelle erstellt würde.
Angesichts vielen traditionellen oder in den letzten Jahren für den Tourismus hinzugekommenen außereuropäischen Zielgebieten verwundert es, dass die Autorin den Interpretationsspielraum des Rahmenlehrplans hier nicht genutzt hat. So kommt der südamerikanische Kontinent, auf dem sich etwa in Peru, Ecuador, Argentinien, Venezuela und Brasililien international bekannte und touristisch attraktive Orte und Regionen befinden, gar nicht vor, während an anderer Stelle selektiert wird.
Deutlich lückenhaft ist beispielsweise Mexiko behandelt. Weder die bedeutsamen, mit allen Unterkunftskategorien ausgestatteten Badeorte entlang der mexikanischen Pazifikküste und des Golfs von Kalifornien - zum Beispiel Puerto Escondido, Acapulco, Puerto Vallarta, Lázaro Cárdenas, Manzanillo, Mazatlán, Los Cabos - noch international kultur- und architekturhistorisch geschätzte, auch von Deutschland aus buchbare Orte und Regionen, etwa Guanajuato, Querétaro, Chihuahua, Oaxaca oder Mexiko-Stadt, fanden Eingang in das Handbuch.
Stattdessen wird Mexiko touristisch auf die Regionen der Halbinsel Yucatán reduziert, wobei wenigstens deren wichtige Hot Spots neben der Riviera Maya umfangreich behandelt werden. Als läge diesem Mangel Methode zugrunde, werden auch Zielgebiete in Asien außen vor gelassen. Japan, Vietnam, Laos, Malaysia, die Philippinen und - abgesehen von Hongkong - China existieren nicht auf der Autorin geographischer Touristik-Agenda.
Stellt sich die Frage, was die angehenden Reiseverkehrskaufleute antworten sollen, wenn sie von ihren Kunden nach interessanten Reisezielen und Attraktionen abseits der 'beaten tracks', der ausgelatschten Wege, gefragt werden oder von ihnen gezielt Auskünfte beispielsweise zu Angeboten nach Hainan, Beijing, Guilin, Kaifeng, Wintersport in Heiliongjiang (alle China), Angkor (Kambodscha), Luang Prabang (Laos) oder Ise (Japan) erwartet werden?
Schwierig würde es auch, wenn Reiseauskünfte oder -beratungen zu Kanada, Alaska, Namibia, Marokko oder Mauritius nachgefragt werden. Als befände sich die deutsche Touristikbranche noch in den 1960er Jahren, werden diese Zielgebiete nicht erwähnt. Und als sollten aus den angehenden, im Englischen als Travel agents bezeichneten Reiseverkehrskaufleuten lediglich mit geographisch-touristischem Halbwissen ausgestattete Buchungsknechte und -mägde werden, berücksichtigt Ortlepp auch einige wesentliche Aspekte des modernen Tourismus nicht, obwohl diese in ein Handbuch gehörten.
Etwa den Wandel, den die deutsche Tourismus-Branche in den vergangenen Jahren - nicht zuletzt aufgrund gestiegener Kundenansprüche, und somit aus ökonomischen Gründen - im Segment Geoökologie, Umweltschutz und Nachhaltigkeit vollzogen hat.
Subsumiert kann das Buch bestenfalls als Einstiegshilfe für angehende Reiseverkehrskaufleute betrachtet werden. Es sollte ihnen unbedingt Anreiz sein, sich ergänzender und vertiefender Literatur zu widmen, um vor Kunden nicht in thematische Erklärungsnöte zu geraten. Wer sich während oder nach seiner Ausbildung Karrierechancen bei einem Großen der Branche ausrechnet oder bei Spezialveranstaltern produktiv mitwirken will, kommt mit diesem eurozentrierten, etwas altmodisch daherkommenden Handbuch erst jedenfalls nicht aus.
© Uwe Goerlitz
© GeoWis (2009-06-12)
Renate Ortlepp: Geographie für Touristiker. Ein Handbuch für Reiseverkehrskaufleute in Ausbildung und Praxis. 3. komplett aktualisierte Auflage. Softcover, 660 S.; ISBN 3-929835-31-2. DRV-Service GmbH und Schule für Touristik Hans Jürgen Datz und Petra Weigand Verlag, Frankfurt/Main, 2008.